SELTSAME JOBS IM SHOPPING-BUSINESS IN MITTE, UNAUFGEREGTE KOMPETENZ IN CHARLOTTENBURG, FEHLENDE ZENTIMETER AN DER RÜCKENNAHT
: Ein neuer Selbstentwurf

VON DIRK KNIPPHALS

Mein Herrenausstatter liegt in Charlottenburg. Manchmal muss es ja etwas Klassisches sein, und wenn das ansteht – neuer Anzug, neues Sakko, neuer Mantel –, fahre ich in die Mommsenstraße, und zwar tue ich das gefühlt schon immer. Aber diesmal wollte ich etwas Neues ausprobieren.

Also bin ich zunächst mal, die taz liegt um die Ecke, zu Boss in die Friedrichstraße. Die Schnitte sind zu schmal für die Realität meines Körpers; aber manchmal findet sich was. Die Bedienung war auch vollkommen in Ordnung, zurückhaltend und kompetent – aber es stand da in der hinteren Ecke des Flagshipstores dieser kleine Tresen. Zwei Männer, die sich erkennbar unwohl fühlten, wurden von einem aufgedrehten jungen Mann bespaßt; es gibt schon seltsame Jobs im Event-Shopping-Business. „Darf es ein Gläschen Champagner sein?“ Es sah so als, als würde ein RTL-Reality-Nachmittagsprogramm nachgestellt; das störte beim Blick in den Spiegel, der ja ein neues Selbstentwerfen ist.

Gegenüber, in den Galeries Lafayette, tobte ein Kamerateam durch die Herrenabteilung, die von der Auswahl her sowieso erstaunlich eingeschränkt ist. Bei Wöhrl am Potsdamer Platz war alles okay. Nur besonders war’s dort nicht.

Also bin ich doch wieder Richtung altes Westberlin, nach Charlottenburg gefahren – vielleicht hatte ich mich zuvor durch die erwartbaren Fehlschläge auch nur versichern wollen, dass es eben Charlottenburg sein muss. Diese Stille, die einen umfängt! Diese unaufgeregte Kompetenz! Der Verkäufer fragte gar nicht erst nach meiner Größe, er sah sie mit einem dezenten Blick. Ein Probesakko, das schon ziemlich gut saß. Und dann eine fachkundige Beratung, bei der ich nebenbei so viel über die Besonderheiten der Hersteller wie über die schneiderhandwerklichen Herausforderungen meines Körperbaus erfuhr. „Dieser Zentimeter hier oben an dieser Rückennaht, der fehlt für Sie bei Boss-Modellen einfach.“ Nun weiß ich also auch das.

Das Gute am modernen Kapitalismus ist, dass man sich durch solche Ausflüge in die Kragenweitenwelt keineswegs identitär festlegen muss. Einst dachte ich mal, dadurch würde man quasi automatisch bürgerlich. Heute weiß ich: Ach Quatsch, es ist eine der vielen Rollen, die man spielen kann. Ein bisschen ist das immer wie Stippvisite bei „Downton Abbey“. So auch diesmal. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, finde ich. Und besonders großartig die Art, wie mein Verkäufer mir in die Sakkos half. So oft lässt man sich als Mann ja nicht in die Kleidung helfen, und es gibt, bei mir jedenfalls, zunächst immer diesen kleinen Moment der Unsicherheit, wie man noch mal den Arm halten muss (kontraintuitiv nach unten). Der Verkäufer regulierte das problemlos. Und ich nahm mir vor, meinen nächsten Artikel so sorgfältig zu schreiben, wie dieser Verkäufer mich bedient hat.

Eine gängige Redeweise besagt, dass das gute Handwerk ausstirbt. Aber das stimmt, glaube ich, gar nicht. Man muss nur wissen, wo die guten Läden sind. Und dann ist es auch so, dass zwar die Traditionsgeschäfte weniger werden, aber auch immer neue Traditionen gegründet werden. Bei den vielen Geschäften, die um einen herum aufmachen – ob Tischler oder Fahrradwerkstatt, Weinladen oder Kaffeerösterei –, erkennt man schnell, welches sich nur einer neuen Geschäftsidee verdankt und welches mit Können und Freude am Gelingen betrieben wird. In Schöneberg, da, wo ich wohne, muss man, um mit gutem Cappuccino aufzufallen, längst schon geradezu Nerd sein. Und man kann ihn im Anzug und im Kapuzenpulli trinken.