Gefangen im Klischee

NEUKÖLLN Nach einem Streit stirbt Jusef. Der ihn erstochen hat, ist frei. Es sei Notwehr gewesen, sagen die Behörden. Jusefs Mutter fragt sich, wieso das nicht in einem Prozess geklärt wird

■ Am 4. März 2012 starb an schweren Verletzungen durch mehrere Messerstiche, von denen einer ins Herz traf, der Neuköllner Jusef El-A. Der damals 18-jährige geschulte Streitschlichter hatte sich auf Bitten von Freunden in einen Streit eingemischt, der auf einem Fußballplatz entstanden war. Jugendliche mehrheitlich türkischer und arabischer Herkunft waren mit zwei erwachsenen Deutschen, mit denen sie Fußball gespielt hatten, in Streit geraten. Der Streit eskalierte zur Prügelei, die Männer zogen sich in der Nähe in eine Wohnung zurück, vor der Tür forderten die Jugendlichen sie auf, herauszukommen. Sie kamen – einer mit dem Messer bewaffnet, mit dem er Jusef später tötete.

■ Der Täter, ein wegen Gewaltdelikten vorbestrafter 35-Jähriger, stellte sich und kam zwei Tage nach der Tat auf freien Fuß, da die Ermittlungsbehörden davon ausgingen, dass er in Notwehr gehandelt habe. Über ein Jahr später stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Mann aus demselben Grund ein. Zu einem Gerichtsverfahren kam es nicht.

■ Eine Beschwerde des Anwalts von Jusefs Familie gegen die Einstellung der Ermittlungen wurde in der vergangenen Woche abgelehnt. (akw)

TEXT ALKE WIERTH
FOTOS WILLIAM MINKE

Es findet eine ungewöhnliche Versammlung statt an diesem Donnerstagabend. Ungewöhnlich selbst für Berlin-Neukölln, wo so vieles anders ist als anderswo – der berühmteste Bezirk Berlins als der berüchtigtste. Dabei passt an diesem Abend auf den ersten Blick manches zu dem, woran viele wohl denken, wenn sie „Neukölln“ hören, in das Klischee von diesem Bezirk: Es sind viele junge Männer da, braun- oder schwarzhaarig, die Nacken hoch ausrasiert, die Körper austrainiert; junge Frauen in langen Röcken und mit Kopftüchern, es wird Arabisch gesprochen, Türkisch und dieses spezielle Neuköllndeutsch mit zischenden sch-Lauten anstelle des weichen ch etwa im Wort „ich“ – schnell und in kurzen Sätzen meist bei den Männern, mit lang gezogenen Vokalen bei den Frauen.

Sitzbänke stehen im Halbkreis, davor ist eine Reihe aus Tischen aufgebaut. Die hinter den Tischen stehen, sind deutsche Männer, fast alle über 50, blond oder grauhaarig, sie reden leise miteinander. Namensschilder klären, wer gleich wo Platz nehmen wird: Die Polizei ist da, jemand vom Jugendamt, ein Staatsanwalt, der die Senatsjustizverwaltung vertritt, ein Rechtsanwalt, der Migrationsbeauftragte des Bezirks, ein Stadtrat wird erwartet. Eine Diskussion zwischen Bürgern und Behörden also vielleicht – mit der üblichen Rollenverteilung. Man könnte sagen: auf beiden Seiten die üblichen Verdächtigen.

Ungewöhnlich ist: erstens der Ort. Es ist ein Boxclub in der ersten Etage eines kleinen, etwas schäbigen Einkaufscenters am unteren Rand des Neuköllner Nordens, südliche Sonnenallee. Fitnessgeräte stehen zusammengeschoben in einer Ecke. Die Menschen, die langsam und ruhig in den Raum strömen, 80, 100, 120, bringen die Boxsäcke, die von der Decke hängen, sanft zum Schwingen.

Ungewöhnlich noch: die Stille. Drittens: der Berg von Papiertaschentücherpackungen, der auf dem Tisch neben Wasserflaschen dort liegt, wo bei solchen Veranstaltungen sonst die Kekse stehen. Die hier sind, sind wegen Jusef hier. Jusef ist tot, getötet worden hier in Neukölln am 4. März 2012.

Das ist an diesem Donnerstag, dem 5. September, genau 550 Tage her, mehr als ein Jahr also schon. Es hatte Streit gegeben damals im März, auf einem Fußballplatz in der Sonnensiedlung gleich um die Ecke des Boxvereins. Streit zwischen Berliner Jugendlichen türkischer und arabischer Herkunft und erwachsenen Männern, Deutschen, die mit ihnen Fußball spielten. Am Ende war Jusef tot.

Dabei war der damals 18-Jährige gar nicht dabei gewesen, bei dem Streit, bei dem Fußballspiel. Freunde hatten ihn per Telefon dazugerufen, als der Konflikt eskalierte. Jusef war Streitschlichter, er hatte eine Ausbildung dazu gemacht, 30 Stunden, im Jugendclub um die Ecke von dem Boxclub. Doch als Jusef kam, war nichts mehr zu schlichten. Der Streit war zur Prügelei geworden, der 35-Jährige, der Jusef später erstach, erlitt dabei einen Schädelbasisbruch. Am Ende lag Jusef am Boden, schwer verletzt durch Messerstiche. Er starb kurz darauf im Krankenhaus.

Die schlanke, kleine Frau, die an einem Tisch schräg zum Podium sitzt, ist Jusefs Mutter, Majda El-A. Ganz in Schwarz, mit dunklem Kopftuch, wirkt sie dennoch jung. Jung und ernst. Dabei sieht ihr Mund aus wie zum Lachen gemacht, zum Lachen und zum Reden. Sie kann ausgezeichnet reden, auf Arabisch, auch auf Deutsch, was nicht so gut ins Neukölln-Klischee passt.

Sie weiß das, denn sie hört das oft: Wie gut sie Deutsch spricht! Jahrelang war die 43-Jährige Stadtteilmutter, Dolmetscherin und Mitglied im Quartiersbeirat in ihrem Kiez. Jetzt arbeitet sie bei einer Computerfirma, sie ist gelernte Bürokauffrau. Aber an diesem Donnerstag kann sie nicht reden. Am Anfang nicht. Sie weint. Einer der jungen Männer bringt ihr eine der Taschentücherpackungen, sie presst sich ein Tuch vor den Mund.

Aus der Zeitung erfahren

Majda El-A. hat die Veranstaltung im Boxclub veranlasst, hat mit der Hilfe der Sozialarbeiter und Quartiersmanagerinnen aus der Sonnensiedlung, wo die Familie El-A. wohnt und der tödliche Streit seinen Anfang nahm, die Behördenvertreter eingeladen. Denn Majda El-A. will wissen, warum der Mann, der ihren Sohn tötete, dafür nicht bestraft wird.

Dass es so ist, hat sie aus der Zeitung erfahren: Die Ermittlungen wurden eingestellt, ohne Gerichtsverfahren, die Staatsanwaltschaft erkannte auf Notwehr. Der Täter ist damit frei, für unschuldig erklärt. Sie hat deshalb viele Fragen an die Behördenvertreter. Jetzt kann sie nicht sprechen. Die Moderatorin, eine der Quartiersmanagerinnen, liest vor, was Jusefs Mutter sagen wollte. Sie hat es aufgeschrieben, sie hat schon oft gesprochen über den Tod ihres Sohnes, den tragischen Fall, wie die Behördenvertreter es immer wieder nennen werden. Für Jusefs Familie ist der tragische Fall eine Tragödie. Jusef war das älteste ihrer vier Kinder, drei Jungen, ein Mädchen. „Er war meine erste große Freude und mein erster großer Schmerz“, sagt seine Mutter.

Sie wollte diese Veranstaltung, jetzt, 550 Tage nach dem Tod ihres Sohnes. In Notwehr, das heißt: weil er sich in der Situation nicht anders retten konnte, habe der Mann zugestochen. Das heißt auch: Er ist unschuldig, der Tote ist der Täter. „Der Killer stach aus Notwehr zu“, schrieb die Bild.

Aus der Bild hat die Familie auch von der Einstellung der Ermittlungen erfahren. Von der Justiz kam die Nachricht erst Tage später. Im Boxclub kann der Vertreter der Senatsjustizverwaltung auch nicht erklären, wie es dazu kommen konnte, dass die Zeitung vor der Familie Bescheid wusste. Das hätte nicht sein dürfen, sagt er.

Notwehr – das bedeute, dass die Staatsanwaltschaft nach Prüfung der Akten zu dem Schluss gekommen sei, dass dem Messerstecher kein strafbares Handeln vorzuwerfen sei, erklärt der Anwalt der Familie. Es sei nicht selten, dass solche Fälle unter Nichtjuristen „große Diskussionen“ auslösten, ergänzt der Vertreter der Staatsanwaltschaft. Dass Notwehr auch heißt, dass die Staatsanwaltschaft annimmt, dass der Tote nicht Opfer, sondern Täter, Angreifer gewesen ist und das Opfer damit der Mann, der Jusef erstochen hat, bestätigt er. Auf Nachfrage.

Notwehr – das war schon kurz nach der Tat die Einschätzung der Ermittlungsbehörden gewesen. Deshalb setzten sie den Mann, der Jusef erstochen und sich später gestellt hat, zwei Tage nach der Tat auf freien Fuß. Majda El-A. hat auch das aus den Medien erfahren. Zu ihr hatten die Ermittlungsbeamten zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt aufgenommen. Sie sei „enttäuscht von den Behörden“, hat sie damals gesagt.

Dass sie dennoch kurz nach der Tat bei einer Gedenkveranstaltung für Jusef auf den Stufen des Neuköllner Rathauses stand und auf Bitten von Bezirk und Polizei in ihrer Ansprache auch sagt „Wir wollen keine Rache“, war für sie eine Selbstverständlichkeit. Und eine Zumutung: „Wir haben doch nie an Rache gedacht!“, sagt Majda El-A.

Es ist ihre Rolle seither: Sie ist die Friedfertige, die zu Ruhe und Besonnenheit aufruft – und dabei gut weiß, dass sie damit genau das Klischee bestätigt, das sie nie erfüllt, stattdessen selbst aktiv bekämpft hat: das der rachsüchtigen, aggressiven, unkontrollierten und nicht kontrollierbaren Araber.

Majda El-A. ist in Nabatiya geboren, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Als sie acht Jahre alt war, flüchtete ihre Familie vor den Bomben, die im Bürgerkrieg auf das Lager fielen, nach Deutschland. Majda wuchs in einem Dorf bei Würzburg auf. „Drei Ausländerinnen gab es in meiner Klasse“, sagt sie. Die Deutschen im Dorf waren nett, „Landsleute“, sagt Majda, wenn sie von ihnen spricht. „Wir hatten keine Probleme. Wir haben Weihnachten und Ostern zusammen gefeiert.“

Erst als sie mit ihrem Mann nach Berlin zog, ist sie konfrontiert worden mit dem negativen Bild vieler Deutscher von „den Arabern“: „Das kannte ich früher nicht.“ Sie engagiert sich, als Kiezmutter in der Neuköllner Hochhaussiedlung, in der die Familie lebt, als Dolmetscherin hilft sie anderen Familien. Und hört immer wieder, wie ungewöhnlich Lehrer, deutsche Nachbarn das finden: „Sie mit Ihrem Kopftuch!“ Das soll ein Lob sein.

„Man bekommt hier ständig das Gefühl, sich beweisen zu müssen“, sagt sie. „Aber ich bin doch nicht so, weil ihr das so wollt!“ Dieses „ihr“ hat sie früher nicht benutzt. „Ich mache das, weil ich das möchte, weil ich teilnehmen möchte, wissen, was meine Kinder machen.“ Und: „Ja, es gibt die Ausländer, die zu dem schlechten Ruf beigetragen haben. Aber dafür bin ich doch nicht verantwortlich!“

Es ist an dem Abend im Boxclub genau das, was die ZuhörerInnen am meisten umtreibt: Wieso kommen wir nicht raus aus dem Täterklischee? Wieso ist selbst in einem Fall wie Jusefs am Ende der der Täter, der getötet wurde? Und wieso reicht es, das ohne Gerichtsverfahren festzustellen?

Manche schreiben „Mob“

Der Täter – „Stecher“, wie ihn die Justizvertreter nach der Einstellung des Verfahrens juristisch korrekt nennen – war Deutscher. Als Jusef zu dem Streit kam, hatte er sich in das Haus eines Freundes zurückgezogen. Vor der Tür die wütende Menge der anderen Streitseite, die ihn herauszukommen aufforderte – Jugendliche und junge Männer türkischer und arabischer Herkunft, 16- bis 20-Jährige. „Mob“ und „Meute“ schreiben manche Zeitungen später. Der Täter – Stecher –, ein Mann von 35 Jahren, ist laut Staatsanwaltschaft mehrfach und auch „einschlägig“, also wegen Gewaltdelikten vorbestraft. Er ruft nicht die Polizei, sondern kommt aus dem Haus, mit einem Messer bewaffnet.

Wie kann das Notwehr sein?, fragt Jusefs Mutter, fragen die Jugendlichen.

Die meisten von ihnen kannten Jusef und seine Familie, die Stadtteilmutter, den „großen Bruder“ Jusef, den Streitschlichter, der immer alle so schnell wieder zum Lachen bringen konnte, wenn die Luft mal dick oder die Lage düster war. Mist hatte auch Jusef mal gebaut: Er hatte zusammen mit Freunden ein Mofa geklaut – und sich später schriftlich bei der Polizei dafür entschuldigt. Da war er 13. Das Verfahren vor dem Jugendgericht wurde damals ohne Verurteilung eingestellt. Als vorbestraft gilt Jusef damit nicht.

Ja, es sei wirklich tragisch, dass es diese Familie getroffen habe, sagt im Boxclub Arnold Mengelkoch, Neuköllns Migrationsbeauftragter. Sie entspreche so gar nicht dem typischen Bild: „Nur vier Kinder!“ Auch das ist als Lob gemeint. Im Fernsehen äußert sich Mengelkoch gern über „kriminelle arabische Großfamilien“, die Neukölln und ganz Berlin unsicher machten. Auf der Veranstaltung im Boxclub rasen seine Augen unentwegt über die Versammelten. Es wirkt ängstlich. Angesprochen auf die Verfahrenseinstellung sagt er, dass es doch gut sei, dass in Deutschland nicht „das Recht des Stärkeren“ gelte, nicht das Recht derjenigen, „die mit dicken Autos auf den Straßen herumfahren“, sondern Gesetze. Mengelkoch spricht von der Nazizeit, in der es kein Recht gegeben habe: „Das wollen wir in Deutschland nicht mehr haben.“ Das Publikum hört sich das an, ruhig. Nur ein junger Mann, ein Freund der Familie El-A., steht auf, sehr gerade, schwarze Locken, austrainierte Oberarme, er ist aufgeregt, man merkt es ihm an. „Was soll dieser Vergleich“, fragt er, seine Stimme bebt, „was hat die Nazizeit damit zu tun?“ Er stellt detaillierte Fragen zum Ermittlungsverfahren, fragt: „Verstehen Sie denn nicht, dass es auch um Mitgefühl geht? Versuchen Sie sich doch mal in die Familie hineinzuversetzen!“ Als er sich setzt, wird er gefragt, ob er etwa Jurist sei. „Nein“, sagt er: „Ich bin Arzt.“

Der Vertreter der Senatsjustizverwaltung findet, als er den Begriff „Notwehr“ erklären will, den Vergleich mit „Prügeleien auf Hochzeiten von Großfamilien“ passend. Da wisse man nachher auch nie so genau, wer angefangen habe: „Sie kennen das ja.“

Der Anwalt der Familie hat Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens wegen Notwehr eingelegt. An dem Abend im Boxclub ist er noch optimistisch, dass die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Neue Augenzeugen hätten sich gemeldet, zudem sei es in Berlin eigentlich übliche Praxis der Staatsanwaltschaft, im Falle eines Tötungsdeliktes Anklage zu erheben, wenn auch nur eine 51-prozentige Wahrscheinlichkeit zur Verurteilung des Täters bestehe.

Ein Ort für die Trauer

„Was sollen wir denn noch machen, um zu beweisen, dass wir keine Gewalt wollen?“, fragt ein paar Tage nach der Diskussion im Boxclub ein Freund von Jusef. „Auf Jusefs Beerdigung waren fast dreitausend Leute – es gab keine Gewalt, obwohl damals viele wütend waren. Und die Veranstaltung im Boxclub: War da die Stimmung etwa aggressiv? Nein, alle waren ruhig. Keiner will doch, dass schlimme Sachen passieren.“

Er sitzt im Sunshine Inn, dem Jugendclub im Kiez, zusammen mit Hamza El-Khalaf, dem Sozialarbeiter. Hier haben sich die Jugendlichen nach Jusefs Tod getroffen, mehrere Tage lang sei der Club rund um die Uhr damals offen gewesen, sagt El-Khalaf: „Zeitweise waren hundert Jugendliche hier, haben hier getrauert. Sie brauchten einen Ort dafür.“ An der Wand sind Graffitis mit Jusefs Namen, die die Jugendlichen damals gemacht haben. „Draußen vor der Tür warteten Journalisten“, erzählt der Sozialarbeiter. „Die wollten unbedingt mit den Jungs reden. Wir haben versucht, sie wegzuschicken.“ Das klappte nicht. Stattdessen kam plötzlich die Polizei, mehrere Mannschaftswagen, Kampfmonturen. „Jemand hatte sie angerufen, weil hier angeblich eine Massenschlägerei sei“, erzählt Jusefs Freund. „Die kamen mit ihren Hunden hier an. Hier waren auch Kinder!“

Während das Verfahren gegen den deutschen Mann, der Jusef erstochen hat, eingestellt wurde, wird gegen viele der arabisch- und türkischstämmigen Jugendliche von der anderen Streitseite zum Zeitpunkt der Veranstaltung im Boxclub noch ermittelt. „Schwerer Landfriedensbruch“ laute der Vorwurf an ihn, erzählt einer im Boxclub. Dabei geht es etwa um Gewalt mit Waffen oder „Gewalttätigkeit, die einen anderen in die Gefahr des Todes bringt“. Bestraft werden kann das mit Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren. Die Polizei hatte am Tatort mehr als das eine Messer gefunden, mit dem Jusef getötet wurde – möglicherweise hinterlassen von einem der Jugendlichen. Das muss noch aufgeklärt werden.

Zwei Monate nach der Veranstaltung im Boxclub, im November, sind die Bäume in der Sonnensiedlung fast kahl. Sie lassen die Tristesse der heruntergekommenen Hochhäuser sichtbar werden. Majda El-A. sitzt in ihrer Wohnung und weint wieder. Am Montag hat sie von ihrem Anwalt erfahren, dass die Beschwerde gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Mann, der Jusef getötet hat, abgelehnt wurde. Die Staatsanwaltschaft bleibt bei ihrem Befund: Notwehr, kein Gerichtsverfahren. Auch der Anwalt ist überrascht. Jetzt stünde der Familie nur noch eine Klage gegen diese Entscheidung offen – ein kostspieliger Weg.

Sie wisse noch nicht, ob sie ihn gehen werden, sagt Majda El-A.: „Ich weiß nicht mehr, was ich machen, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.“ Wenn ein Gerichtsverfahren festgestellt hätte, „dass Jusef an diesem Tag unrecht gehandelt hat: ich hätte es akzeptierten können. Aber sie nehmen uns ja nicht einmal so ernst, das in einem Prozess zu klären.“

Seit 20 Monaten ist ihr Sohn nun tot, seit 20 Monaten kämpft sie um ihren Glauben an Gerechtigkeit, um ihr gutes Bild von Deutschland, von der Gerechtigkeit hier, um ihr Zuhause: für sich, für ihre verbliebenen drei Kinder. Jetzt fragt sie: „Was wollt Ihr denn noch?“ Gegen dieses Ihr und Wir hat sie früher gekämpft.

„Es prallen da zwei Welten aufeinander“, sagte am Ende des Abends im Boxclub einer vom Podium, der Vertreter der Staatsanwaltschaft. Ja. Zu ergänzen wäre aber: Wo sie das tun, bestimmt immer die eine über die andere.