Vielleicht an Weihnachten

KOALITION Kompromisse auszuhandeln, ist immer mühsam. Die Lethargie der Politiker diesmal aber ist historisch einmalig. Und sie hat einen Grund

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne? Diesem nicht. Wechselseitiger Überdruss und Misstrauen beherrschen das Klima der Koalitionsverhandlungen. Immer mehr strittige Punkte werden ausgeklammert und nach hinten verschoben, und dennoch bleibt genug übrig, womit man sich tagesaktuell auf die Nerven gehen kann. In der Bevölkerung sinkt die Zustimmung zur Großen Koalition und zugleich verstärkt sich der Eindruck: Hier entsteht ein Bündnis, zu dem auch keine der Beteiligten die geringste Lust hat.

Selbst Zwangsehen beginnen vielleicht hasserfüllt, aber zumindest nicht zerrüttet. Im Unterschied zu dem jetzt geplanten Bündnis. Wenn der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel erklärt, es werde keine „Liebesheirat“ mit der Union geben, dann ist das lächerlich, weil offensichtlich. Aber selbst für eine Zweckgemeinschaft scheint man sich zu gut zu kennen – und zu wenig leiden zu können.

Koalitionsverhandlungen sind selten unterhaltsam für die breite Öffentlichkeit. Wer mühsam Kompromisse aushandelt, spielt nicht für die Galerie. Aber was seit Wochen in Berlin aufgeführt wird, ist dennoch nicht der Normalfall.

Das erste und bislang einzige rot-grüne Bündnis auf Bundesebene verhandelte 1998 knapp einen Monat, dann stand der Vertrag. Die letzte Große Koalition brauchte 2005 etwa doppelt so lange für die Einigung aufs gemeinsame Programm, die erste schwarz-rote Regierung schaffte es 1966 in sechs Wochen. 2013 richten sich alle Hoffnungen auf Weihnachten, das Fest der Liebe. Da liegen die Wahlen dann ein Vierteljahr zurück.

Das Parlament kann nicht vernünftig arbeiten, solange die Regierung nicht feststeht. Na und? Ist doch egal. Die FDP ist aus dem Bundestag geflogen, deren monatelang scheidende Minister sind Stallwachen, die nur noch verwaltend tätig sein können. Na und? Ist doch egal. In der Missachtung demokratischer Institutionen lassen sich die Koalitionäre von Politikverdrossenen nicht übertreffen. Das gilt vor allem für die Bundeskanzlerin: Auch ihr liegt offenbar nichts daran, Richtlinien bestimmen zu können. Ein tapferes „weiter so“ genügt ihr.

In den Verhandlungen werden detailverliebt Spiegelstriche abgearbeitet – oder eben auf Wiedervorlage gesetzt –, ganz so, als ließe sich Zukunft bis in die letzte Einzelheit planen. Was wird die Ministerrunde tun, wenn sie sich mit einer Krise konfrontiert sieht? Vielleicht im Koalitionsvertrag auf Seite 152 nachschauen. Und sich wundern, dass da nichts steht.

Die quälende Lethargie der Sitzungen hat einen Grund: Es fehlt dem angestrebten Bündnis an einem gemeinsamen Ziel, das alle für wichtig halten. Frühere Koalitionen hatten das. Man kann alles falsch finden, was sie beschlossen haben – aber wenigstens wollten sie etwas. Die erste schwarz-rote Regierung musste die Wirtschaft modernisieren, Rot-Grün baute den Sozialstaat um, die Große Koalition nach 2005 versuchte sich an einer Reform des Föderalismus. Und was soll jetzt kommen? Schweigen. Da ist es nicht erstaunlich, dass Themen wie die Lkw-Maut zu Schicksalsfragen der Nation hochgejubelt werden.

Selbst Revolutionäres wird beiläufig ausgerufen. Und ebenso beiläufig beerdigt. Das zeigt sich an der zwischen SPD und CSU schnell beschlossenen und von der Kanzlerin ebenso schnell kassierten Vereinbarung, plebiszitäre Elemente in der Politik zu stärken. Man kann das richtig oder falsch finden. Aber eignet sich ein so wichtiges Thema dafür, als Kaninchen aus dem Hut gezaubert zu werden? Oder es hätte es nicht doch wenigstens eine kleine Rolle im Wahlkampf spielen sollen, damit sich die Bevölkerung ein eigenes Urteil bilden kann? Ach, ist auch egal. So wie alles andere.

Sollte es zu Neuwahlen kommen, dann werden vermutlich alle Großkoalitionäre abgestraft werden. Die Frage ist offen, ob die SPD-Basis davor mehr Angst hat als vor einer lustlosen Regierungsbeteiligung ohne Konzept. Wenigstens das ist interessant.

BETTINA GAUS