Der Machtkampf in Palästina eskaliert

Hamas stellt eine eigene bewaffnete Truppe auf – trotz eines Vetos von Präsident Abbas. Rivalisierende Sicherheitskräfte der Islamisten und von Fatah machen das Westjordanland und den Gaza-Streifen unsicher. Das schürt Angst vor einem Bürgerkrieg

Es geht nicht, dass jede Gruppe und jede Organisation ihre eigene Armee gründet

AUS JERUSALEM SILKE MERTINS

Bewaffnete Kämpfer der Fatah haben gestern auf den stellvertretenden palästinensischen Ministerpräsidenten Nasser Schaer geschossen. Der Hamaspolitiker musste seinen Besuch in Tulkarem im Westjordanland abbrechen und die Stadt fluchtartig verlassen. Ein Sprecher der Fatahmiliz Al-Aksa-Brigaden sagte, Vertreter der Hamasregierung seien dort nicht willkommen.

Augenzeugen zufolge wurde das Gebäude, in dem sich Schaer mit lokalen Politikern traf, von bewaffneten Fatahkämpfern umstellt. Polizisten eskortierten Schaer später aus dem Gebäude. Der Vizeministerpräsident ist der höchste Vertreter der Hamas-geführten Regierung im Westjordanland. Ministerpräsident Ismail Hanijeh und alle übrigen hochrangigen Regierungsrepräsentanten sitzen im Gaza-Streifen, der Hochburg der Hamas.

Der Vorfall ist der vorläufige Höhepunkt des sich verschärfenden Machtkampfes zwischen der Hamas-geführten Regierung und der Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Seit die militante Islamistenorganisation im Januar die Parlamentswahlen gewonnen und die über Jahrzehnte dominierende Fatah aus der Regierung verdrängt hat, sind die Spannungen zu einer gefährlichen Krise angewachsen.

Ausgelöst wurden die jüngsten Zusammenstöße durch den Tod zweier Hamaskämpfer in der Nacht zu Mittwoch. Der palästinensische Innenminister Said Siam erklärte daraufhin, die neue Sondertruppe der Sicherheitskräfte sei nun „einsatzbereit“. Angesichts der „Anarchie“ und wegen „des Ungehorsams der Sicherheitskräfte gegenüber Befehlen wurde entschieden, die neue Truppe sofort die Sicherheit und Ordnung wiederherstellen zu lassen“, so der Hamaspolitiker.

Die Regierung ignoriert damit ein Veto von Präsident Abbas. Der 2005 direkt gewählte Nachfolger von Palästinenserführer Jassir Arafat hatte entschieden, dass die Gründung einer neuen Sondertruppe mit dem bekannten und in Israel gesuchten Hamaskämpfer Dschamal Abu Samhadana an der Spitze nicht dem Gesetz entspreche. Der Präsident entsandte deshalb gestern mehrere tausend Sicherheitskräfte in die größeren Städte. Im Laufschritt marschierten Hunderte am Amtssitz des Innenministers in Gaza-Stadt vorbei – eine Demonstration der Stärke. Abbas forderte die Auflösung der Sondertruppe.

Innenminister Siam argumentiert, dass die regulären Sicherheitskräfte nicht effektiv seien und das Chaos nur noch vergrößerten. „Die Schwäche der Sicherheitskräfte ist jedermann klar.“ Tatsächlich ist sein Problem, dass die Polizei zum größten Teil aus Fatahleuten besteht. Der Innenminister sieht sie nicht ganz zu Unrecht als illoyal gegenüber der Hamasregierung. „Siam kann sagen, was er will“, so Saeb Erekat, ein Vertrauter von Abbas, „aber er muss das Gesetz achten. Es geht nicht, dass jede Gruppe und jede Organisation ihre eigene Armee gründet.“

Der ägyptische Konsul im Gaza-Streifen bemühte sich bereits in der Nacht zu Donnerstag um Entspannung. Fünf Stunden redeten Vertreter von Fatah und Hamas in der Residenz des Diplomaten miteinander. Doch neue Zusammenstöße konnten damit nicht verhindert werden.

Die Eskalation der Gewalt schürt die Angst vor einem Bürgerkrieg. „Die Hamasanhänger werden in einer Kultur des Hasses und der Intoleranz erzogen“, sagt Allah Jaghi, Parlamentsabgeordneter der Fatah in Gaza. Sie glaubten, dass die Fatah gegen den Islam sei und sich mit dem Ausland gegen die Regierung verschworen habe. „Hamas provoziert uns. Wir schlagen nur zurück, wenn wir attackiert werden. Hamas will uns in einen Bürgerkrieg hineinziehen.“