: Große Experimentiermeile
Nach dem Ende des Internationalen Videokunstforums sind bis Freitag noch zwei von drei Segmenten des Projekts „Stile der Stadt. Kunst und Konsumarchitektur“ in der Altonaer Großen Bergstraße zu sehen – und zu hören
Wie kaum ein anderer Ort spiegelt die Altonaer Große Bergstraße die Veränderungen von öffentlichem Raum und Konsumkultur wider. In den 60ern war sie die erste großstädtische Fußgängerzone Deutschlands. Heute ist das ehemalige Hauptgeschäftszentrum von Leerstand gezeichnet. Für die an Marktanalysen geknüpfte Stadtplanung der Gegenwart ist die im Schatten der verwaisten Betonkomplexe Forum und Frappant gelegene ehemalige Flaniermeile deshalb zur Problemzone geworden.
Das seit letzter Woche stattfindende Projekt „Stile der Stadt“ fragt vor diesem Hintergrund nach dem Verhältnis von Konsumarchitektur und Kunst. Drei Segmente verbinden dabei die charakteristischen Orte der Einkaufszone miteinander. Bis Donnerstag war die Glaspassage des ehemaligen „Forum Altona“ Schauplatz des ersten Internationalen Videokunstforums. Themen waren architektonische Situationen in Kaufhäusern, subversive Taktiken der Verbraucher und Technologien des Konsums.
Mit dem zweiten Segment erscheint das Projekt mit Installationen, Aktionen und Sound im öffentlichen Außenraum der Großen Bergstraße. Thorsten Brinkmann etwa hat aus Restmaterialien aus dem alten Karstadt-Gebäude an der Stelle der abgerissenen Pavillons seinen „Großen Berg-Tempel“ errichtet. Weiterverwendung und Mitnahme der benutzten Objekte ist dabei explizit erwünscht. Anwohner können Dinge abgeben und tauschen, auf diese Weise sollen sich eine private Tauschkultur und ein privates Wertesystem entwickeln. Das „Büro für Raumfragen“ möchte die ehemalige Einkaufszone in eine frei aushandelbare, öffentliche Experimentierzone verwandeln. Auf der Basis von ethnographischen Raumanalysen konzipiert und produziert das Büro Hörstücke speziell für diesen Ort. Jede „Hörzelle“ folgt einer eigenen Dramaturgie, nach der sich während des Gehens und Hörens Bezugspunkte zwischen Realraum und Geschichte ergeben. Das Hören über Kopfhörer produziert dabei eine Intimität mitten im öffentlichen Raum. Die Hamburger Radiogruppe Ligna – unter anderem für ihre über das Freie Sender Kombinat gesendeten „Radioballette“ bekannt – führt am Dienstagabend ab 18 Uhr in der Großen Bergstraße eine Radioaktion durch, mit der sie das kommerzielle Sender-Empfänger-Modell – das Radio zu einem simplen Konsumgut macht – in Frage stellen will.
Das dritte Segment spielt mit den Möglichkeiten von Formen, Farben und Klängen auf der architektonischen Oberfläche des ehemaligen Karstadt-Gebäudes. William Engelen etwa zielt mit seiner Klanginstallation „Das knurrende Gebäude“ auf eine imaginäre Verwandlung des Baus ab. Aus einem Rohr für Müllentsorgung lässt sich sein knurrender Magen vernehmen: das leer stehende Gebäude hat Hunger.
ROBERT MATTHIES