Priester unter Spitzeleivorwurf

Michal Czajkowski soll den Solidarność-Priester Jerzy Popieluszko ans Messer geliefert haben. Das zumindest behauptet Polens Hauptstadtzeitung Zycie Warszawy. Für viele Polen ist das ein Schock. Denn der 62-jährige Czajkowski ist ebenfalls Priester und gilt in Polen als große moralische Autorität. Unfassbar erscheint, dass ausgerechnet der hoch angesehene Moralist Czajkowski ein „Verräter“ sein soll, ein „Kapo und Geheimdienstspitzel“, wie die Zeitungen nun schreiben. Erst 1984, als der polnische Geheimdienst den inzwischen selig gesprochenen Popieluszko ermordete, soll Czajkowski den Kontakt zu seinem Führungsoffizier abgebrochen haben. Bis dahin allerdings soll er 24 Jahre lang treue Zuträgerdienste geleistet und von Zeit zu Zeit auch Geld dafür kassiert haben.

Czajkowski bestreitet die Vorwürfe vehement. „Ich war nie ein Geheimdienstspitzel.“ Allerdings sagt er auch: „Ich wollte nie der Kirche schaden. Wenn jemand meine Leichtgläubigkeit ausgenutzt haben sollte, entschuldige ich mich dafür.“ Im Institut des Nationalen Gedenkens (IPN), dem polnischen Gegenstück zur Birthler-Behörde, sollen sechs Bände mit insgesamt 440 Briefen, Berichten, abgehörten und säuberlich abgetippten Telefongesprächen liegen. Der Tarnname des Spitzels soll „Jankowski“ gewesen sein. Nur benutzt hat er ihn anscheinend nie. Briefe an eine fiktive Person, die direkt in einem Stasi-Briefkasten landeten, soll Czajkowski mit „Michal“ unterschrieben haben, also seinem echten Vornamen.

Während manche Politiker und Publizisten den angesehenen Warschauer Theologieprofessor schon als Verräter verdammen, mahnen andere zu Besonnenheit. Außer dem Autor der sensationell aufgemachten Kirchen-Stasi-Story habe bislang niemand die Akten gesehen. Zudem klängen manche Zitate aus den Spitzelberichten äußerst merkwürdig. So beschreibe „Jankowski“ in Ich-Form, wie er in den 60er-Jahren Geheimfach und Schreibtischschublade des Breslauer Kardinals Boleslaw Kominek durchsucht und nichts Interessantes gefunden habe. Einen Satz weiter verweise er auf Priester Czajkowski, dem der Kardinal wahrscheinlich vertrauliche Papiere anvertraut habe. Er bietet an, auch bei Czajkowski zu spionieren. Normalerweise, so die Kritiker des Zycie-Warszawy-Artikels, würde man nun vermuten, dass es sich um zwei Personen handle: den Spitzel „Jankowski“ und das künftige Stasi-Opfer Czajkowski.

Doch bei Tadeusz Witkowski, dem „Entdecker“ der angeblichen Czajkowski-Akten im IPN, wecken die Ich-Er-Berichte keine Zweifel. Er hält sie vielmehr für eine besonders abgefeimte Form der Spurenverwischung.

GABRIELE LESSER