Der Charme des Unvollkommenen

PREMIERE Christof Loy hat an der Deutschen Oper Verdis „Falstaff“ neu inszeniert. Auch wenn dabei musikalisch manches schiefgeht: Schöner und liebevoller kann man den 200. Geburtstag des Komponisten nicht feiern

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Das Jubeljahr für Wagner und Verdi geht zu Ende. Die Deutsche Oper, die eigentlich immer noch damit beschäftigt ist, sich aus der Dauerkrise der letzten Jahre herauszuarbeiten, hat tapfer mitgespielt im Chor der Opernhäuser. Aber es war auch zu spüren, dass für den Intendanten Dietmar Schwarz Wagner eher eine Pflichtübung war. Verdi jedoch lag ihm am Herzen. Die Deutsche Oper zeigte durchweg respektable Inszenierungen der wichtigsten Werke. Am Sonntag schloss nun Christof Loy mit seiner neuen Inszenierung des „Falstaff“ die Hommage zum 200. Geburtstag des Mannes ab, der so viel mehr war als nur der Komponist unsterblich populärer Melodien.

Christof Loy versteht Verdis letzte Oper als autobiografisches Zeugnis. „Falstaff“ ist 1893 an der Mailänder Scala uraufgeführt worden. Verdi war 80 Jahre alt, Multimillionär, Großgrundbesitzer und wollte nach „Otello“ keine Opern mehr schreiben. Stattdessen ließ er am Stadtrand von Mailand die „Casa di Riposo“ bauen, ein Altersheim für mittellose Musiker. Diese „Casa Verdi“ gibt es noch heute.

Loys Inszenierung beginnt mit einer Rückblende. Das Bühnenportal ist eine Leinwand, auf der ein fiktiver Dokumentarfilm in Schwarz-Weiß mit krächzender Tonspur das Leben im Altersheim der Verdi-Stars zeigt. Sie sind prächtig kostümiert, lassen sich bedienen, einer von ihnen, ein besonders dicker Mann mit langen weißen Haaren, singt ihnen was vor, begleitet vom Klavier, das ziemlich verstimmt ist.

Melancholie und Ironie

Aber sie klatschen brav, die anderen Alten, die drum herum sitzen, nicken mit dem Kopf. Ja, so war das, sehr schön der „Falstaff“. Dann fährt die Leinwand hoch, und wir sehen dieselben Leute auf der Bühne, auch der Mann am Klavier ist noch da. Der Film ist im Berliner Hotel Bogotá gedreht worden und bleibt den ganzen Abend lang die Folie für das reale Spiel auf der Bühne. Sie erinnern sich, gehen noch einmal hinein in eine Rolle, müssen sich umziehen, um mal wirklich zu spielen, aber dann spielen sie doch nur, dass sie spielen, wie damals in der großen Verdi-Oper.

Daraus entsteht ein spielerisch leichtes, zwischen Melancholie und Ironie schwebendes Theater, in dem es im Grunde nur um eine einzige Person geht: um Giuseppe Verdi selbst. Er wollte doch gar nicht mehr. Aber Arrigo Boito, sein Freund, der ihm das Textbuch für den „Otello“ schrieb, hat ihn überredet. Mit Shakespeare natürlich, und einem perfekten Text nach den „Lustigen Weibern von Windsor“ und einigen Szenen aus „Henry IV“. Verdi konnte nicht widerstehen, aber er schrieb nicht nur seine letzte Oper, sondern in gewisser Weise auch seine erste – nämlich die erste, die nicht nach dem Publikum und dem Erfolg an der Kasse schielte. „Falstaff“ ist die Oper, die Verdi für sich selbst schrieb. Er zitiert sich selbst, schreibt Ensembles für neun Stimmen mit unterschiedlichen Metren, mischt Orchesterfarben, die man höchstens beim späten Mahler vermutet, ständig wechseln das Tempo, der Ausdruck, die Stimmung – und immer ist es auf subtile Weise komisch.

Das Ganze endet mit einer vierstimmigen Doppelfuge, für die sich Bach nicht geschämt hätte. Wenn sie zu Ende ist, sind alle wieder im Altersheim und versammeln sich um das bekannte Porträt des Maestro mit Schal und Zylinder. Das war Verdi, nicht „Va pensiero“ aus Nabucco, sondern dieses Pandämonium extremer Musik.

Musikalisch ungenau

Leider ist sie so extrem, dass Orchester und Ensemble unter Donald Runnicles nicht immer mithalten können. Vieles geht durcheinander, ist ungenau und in den Lautstärken schlecht abgestimmt. Die Titelrolle sollte eigentlich der Hausbariton Markus Brück singen. Er wurde krank, der junge Noel Bouley übernahm. Er ist Stipendiat des Förderkreises, kann Shakespeares Fettsack sehr lustig spielen, nur reicht seine zweifellos förderungswürdige Stimme noch nicht aus für diese Rolle, die vermutlich eine der schwierigsten ist, die Verdi je geschrieben hat.

Loys Inszenierung ist jedoch so überzeugend, dass die musikalischen Mängel gar nicht stören. Sie haben den Charme des Unvollkommenen, der glücklicherweise verhindert, dass es zur Begräbnisfeier eines ewigen Meisterwerks kommt. Im Gegenteil. „Falstaff“ ist ein erster Versuch, mal etwas ganz Neues zu wagen. Natürlich geht dabei manches schief. Schöner (und liebevoller) kann man ein Jubiläum gar nicht feiern.

■ Aufführungen: 22., 29. 11.