Lernen fürs Leben

BILDUNG Ob Kochkurs oder Philosophieseminar: An der Berliner Obdachlosen-Uni kann sich jeder weiterbilden – unabhängig von sozialen Umständen

Klaus Seilwinder war fast zehn Jahre „auf Platte“, die Spuren der Straße haben sich auf seinem Gesicht eingegraben. Jetzt sitzt der 57-Jährige in einem Seminarraum der Berliner Obdachlosen-Uni und diskutiert philosophische Texte. „Ich habe ein Bedürfnis nach Bildung“, sagt Seilwinder. „Staatsphilosophie: Recht und Gerechtigkeit“ heißt heute das Thema. Im Seminar wird eifrig diskutiert. Es geht um die Frage, wie gerecht es in diesem Land zugeht. Und ob sich jeder selbst verwirklichen kann, auch die sozial Schwachen und Abgehängten der Leistungsgesellschaft.

Die Obdachlosen-Uni ist ein neues Bildungsprojekt in der Hauptstadt, um Wohnungslose stärker am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Aber auch Interessierte mit festem Wohnsitz können teilnehmen. Im aktuellen „Vorlesungsverzeichnis“ stehen Mal- und Kochkurse, ein Bibelgesprächskreis, aber auch Anspruchsvolles aus den Geisteswissenschaften wie ein Philosophiekurs.

Die Seminare leiten überwiegend Ehrenamtler, darunter ehemalige Obdachlose. Die Treffen finden an Orten verschiedener Träger statt. „Die Uni kommt gut an“, sagt Maik Eimertenbrink. Der Kommunikationswirt hat das Projekt initiiert, nach österreichischem Vorbild. In Graz bietet die „Megaphon-Uni“ durch kostenlose Vorträge Zugang zu universitärem Wissen – unabhängig von sozialen Umständen.

Leider würden Obdachlose meist nur als Hilfsbedürftige gesehen, sagt Eimertenbrink. „Man gibt einen Euro und entfernt sich dann wieder“, sagt der 37-Jährige. Dabei wollten auch sie gefordert werden, etwas leisten und lernen. Dozent Bertram Lattner etwa war früher Reiseleiter, bis ihn das Schicksal aus der Bahn warf. Jetzt ist Lattner an der Obdachlosen-Uni „Dozent“ für Länderkunde.

Klaus Seilwinder haben die Uni-Kurse dabei geholfen, sein Leben in den Griff zu bekommen. Der Alkoholiker ist seit anderthalb Jahren trocken, hat mittlerweile wieder eine feste Wohnung und bekommt Hartz IV. „Die Treffen geben erst einmal Struktur“, sagt Seilwinder, ein ehemaliger Berufssoldat. Mittlerweile ist der 57-Jährige an der Obdachlosen-Uni auch Dozent. Sein Thema: „Wie komme ich von der Straße wieder runter?“

HEIKO PRENGEL/DPA