DIE STRENGE DUALITÄT DER ACHTZIGER JAHRE GIBT ES NICHT MEHR
: Pershing oder Petting

Trends & Demut

VON JULIA GROSSE

Neulich traf ich die Eltern einer Schulfreundin wieder. Old-School-Kapitalisten, eigene Fabrik, Schwerindustrie, schwerreich. Es gibt nur wenige Menschen, mit denen ich mein Gefühl für die konservative Seite der 80er Jahre im Nachhinein so intensiv verbinde. Deutsches Dallas. Work hard, play hard. Wachstum ist schön. Er: immer im dreiteiligen Anzug über der Wohlstandskugel. Sie sieht bis heute aus wie Maggie Thatcher, Power-Dressing von Kopf bis Fuß mit hohen, lauten Schuhen, Kostüm und fein modellierter Betonhaube, die ich früher gern einmal berührt hätte.

Der lange Mahagonitisch im Wohnzimmer, um den sich gefühlte zwanzig Freischwinger mit schwarzem Leder gruppierten, wirkte wie die Machtzentrale eines Zigarillo rauchenden Herrenclubs. Hier lagen jede Woche frisch aufgereiht die britische Financial Times, die Wirtschaftswoche, der Stern, der Playboy. Ich bewunderte die saftig gedruckten Cover, hielt mir aber gleichzeitig die Hand vor die Augen, weil mir die Fotoreportagen aus den Kriegsregionen der Welt als Kind so ungefiltert brutal und roh ins Gesicht schlugen. Heute nehme ich den Stern in die Hand und überfliege Titelgeschichten zur Volksdroge Zucker oder Depressionen. Der Vater der Schulfreundin las den Playboy als eine Art kultiviertes Herrenblatt für Geschäftsmänner, die auch gern in Kneipen gingen, die „Daddy’s Hobby“ hießen. Den Playboy auf dem Tisch, mit seiner Mischung aus Kriegsreportagen, Motoren und Männerfantasien, verstand ich nicht. Nackte Frauen neben Rüstungscomics von phallischen Raketen, eine mit dem Muster der amerikanischen, die andere mit dem der sowjetischen Flagge?

Was bei mir als Neunjährige von diesem Mahagonitisch damals definitiv hängen blieb, war die Vorstellung von einer Welt, die klar war, weil es immer nur zwei Seiten gab: dafür oder dagegen, gut oder böse, mutig oder feige, Pershing oder Petting, CDU oder SPD. Diese Dualität schüchterte mich ein, da sie so absolut und streng wirkte, so dominiert vom Draußen- oder Drinnensein, dabei oder nicht dabei. Die Vorstellung, beispielsweise parallel für taz und FAZ zu schreiben, wäre in den 80er Jahren grotesk gewesen. „Links blinken, rechts abbiegen? Entscheid dich mal?!“ Und heute? Wirkt dieser unbedingte Zwang, sich zu entscheiden, wie ein ausgeleierter Witz vom Russen, Deutschen und Amerikanern – ziemlich plakativ. Ha! Da sei man doch heute längst viel schlauer, toleranter und differenzierter! Warum die Gesellschaft mit Angst und Entscheidungszwängen stressen? Angst ist immer ein schlechter Berater, wenn die Wirtschaft brummen soll! Also, schön flexibel bleiben!

Aus der Gabelung mit zwei Wegen à la „Entscheide dich!“ ist eine Weggabelung mit endlosen Optionen geworden: „Entscheide dich? … nicht!“ Damals, als ich als Kind durch den Stern blätterte, hatte man zumindest noch Raum für ein Feindbild, gegen das man sich abgrenzen konnte. Doch heute? Dass man bei dieser Wahl zum Beispiel nur „Merkel wählen“ sollte, hat die CDU ja schon geschafft. Die Bild setzt sich für Asylbewerber ein. Und wieso nicht auf St. Pauli wohnen, im Marketing arbeiten, Doc Martens tragen und „Merkel wählen“, immerhin gibt die einem Sicherheit! Gut, man ist gerade aus der Kirche ausgetreten und wählt ’ne christliche Partei. Aber hey, die paar Euro spart man nun für den eigenen Nachwuchs. Und wenn das nicht wieder sozial ist!

■ Julia Grosse ist freie Publizistin in Berlin