berliner szenen Immer quer zur Schiene

Der Fahrradunfall

Frühmorgens rollt eine Fahrradkarawane die Bernauer Straße hinunter. Ganz vorsichtig. Immer im Slalom um die Baustellen. Ein Radweg und Straßenbahnschienen werden dort neu gebaut – wie schön. „Das ist aber auch scheißgefährlich hier“, sagt der Mann hinter mir. Die Straße ist glitschig. Da, plötzlich, ganz vorne, gerät eine junge Frau mit ihrem Vorderrad in die Schienen. Sie schlingert, fällt und bleibt lang gestreckt mitten auf der Fahrbahn liegen. Entsetzt springen alle von und aus ihren Fahrzeugen.

Wir sind als Erste bei ihr. Der Mann hebt die Kapuze an, die ihr über den Kopf gefallen ist. Ihre Augen sind halboffen, die Pupillen nach oben verdreht. Die Schiene unter ihrem Kopf schimmert rot. Panik schießt in meine Kehle. Doch keine Zeit zu heulen: Wir drehen die Ohnmächtige auf die Seite, einer ruft Polizei und Notarzt, einer bringt Decken und Erste-Hilfe-Kasten, zwei regeln den Verkehr, ich halte ihre Hand, sie kommt zu sich. „Wie heißt du?“ Ich kann sie nicht verstehen. Der Mann findet ihren Ausweis: Maria. Schön, dass du wieder da bist, Maria. Eine alte Frau ruft vom Balkon herunter: „Das ist der vierte Fahrradunfall, immer an der Stelle.“ Ein Bauarbeiter, der dazugetreten ist, ruft zurück: „Blödsinn, der zehnte!“

Der Polizist, der später unsere Personalien aufnimmt, erzählt irgendwas von spitzem Winkel, mit dem man die Schienen überqueren solle. Er sei selbst Fahrradfahrer. Penner, mach das mal, wenn zehn Zentimeter neben dir eine Autokolonne vorbeizieht! Als Maria weggefahren wird, sind auch wir entlassen. Im Schritttempo schleichen wir davon. Ich merke, dass meine Knie butterweich sind. Vor dem Institut kann ich noch mein Fahrrad anschließen. Dann kommen sie doch, die Tränen. LEA STREISAND