Flucht aus der Einseitigkeit

Zwei Ausstellungsprojekte konkurrieren um die Deutungshoheit über die Geschichte der Vertriebenen. Die Ausstellung vom Bonner Haus der Geschichte wäre die bessere Lösung

Die seit Jahren heftig umstrittene Frage, wie des Vertriebenenschicksals im 20. Jahrhundert am besten zu gedenken sei, hat eine überraschende Wendung erfahren. Anlässlich des Gastspiels der vom Bonner Haus der Geschichte veranstalteten Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin erklärte Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU), diese Ausstellung solle „zum Herzstück einer künftigen Dauerausstellung“ werden. „Ihre Realisierung“, so Neumann, „im Zentrum Berlins bereiten wir vor.“

Wie verhält sich nun dieses Vorhaben zu der vom „Zentrum gegen Vertreibungen“ für Anfang August angekündigten Wanderausstellung? Als vor einigen Monaten die Umrisse und die Gliederung des „Zentrum“-Projekts vorgestellt wurden, legten dessen Initiatoren großen Wert auf die europäische Dimension der Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Erika Steinbach, Chefin des Bundes der Vertriebenen und Initiatorin des Zentrums, sah es geradezu als Hauptaufgabe der künftigen Ausstellung an, Empathie mit dem Flüchtlingsschicksal weltweit zu wecken und die enge deutsche Opferperspektive zu überschreiten. Damit wollte sie die Kritik aushebeln, die sich an den vorangegangenen Stadien des Projekts festgemacht hatte. Bemängelt wurde, dass die Ursache von Flucht und Vertreibung der Deutschen, das Nazi-Regime, nicht deutlich benannt und einseitig das deutsche Opfer in den Mittelpunkt gerückt werde. Auch die Wanderausstellung des „Zentrums“ soll schließlich auf Dauer zu sehen sein – ebenfalls in Berlin.

Die Bundesregierung in Person der Kanzlerin sieht sich jetzt in einer widersprüchlichen Position, hat sie doch das Ausstellungsprojekt des Bundes der Vertriebenen mehrfach unterstützt – und dies keineswegs nur als ein Projekt unter anderen. Sie verteidigte das Projekt auch gegenüber der Kritik der polnischen Öffentlichkeit und Regierung, die einen neuen deutschen Opferkult heraufziehen sah. Auch der neue polnische Präsident Kaczyński sah in dem Projekt des BdV ein Verständigungshindernis. Da die Bonner Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ (siehe taz 10. 12. 2005) dagegen bislang in Polen auf ein überwiegend positives Echo gestoßen ist, hätte ein Kurswechsel von Angela Merkel in dieser Frage auch außenpolitische Bedeutung.

Soll sich der Bund jetzt von Erika Steinbachs Lieblingskind zurückziehen und die Ausstellung des BdV gänzlich zu dessen Angelegenheit erklären? Eine solche Wendung wäre in der Tat wünschenswert, wenngleich weniger aus außenpolitischen Rücksichten als vielmehr aus der Sache selbst.

Die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ versteht sich als Bestandteil des Versuchs, die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zu „visualisieren“, hat also logischerweise ihren Schwerpunkt im deutschen Vertriebenenschicksal. Allerdings wird der historische Kontext gewahrt und jede emotionale Überwältigung der Besucher durch das Zeugnis deutschen individuellen Leids vermieden.

Theoretisch wäre sowohl eine Anbindung an das Bonner „Haus der Geschichte“ möglich als auch ein Berliner Standort mit Verbindung zum DHM. Von der Qualität und der pädagogischen Einfädelung her wäre es gerechtfertigt, die Bonner Ausstellung zur Basis einer Dauerausstellung zu nehmen.

Eine solche Vorgehensweise würde auch dem bislang nebulösen europäischen Netzwerk gegen Vertreibungen, einer Initiative der Präsidenten Kwasńiewski und Rau, einen festeren Rahmen geben. Von einem multilateralen Museumsprojekt, dessen Realisierung jetzt vor allem im Hinblick auf die nationalistische Welle in Ostmitteleuropa politische Hindernisse im Weg stehen, könnte getrost Abschied genommen werden. Das europäische Netzwerk könnte sich, eine frühe Initiative des Historikers Karl Schlögel aufnehmend, mehr dem wissenschaftlichen Austausch, der Forschung und der Entwicklung gemeinsamer Projekte widmen. Wer sich vom musealen Stand der Dinge überzeugen will, hat Anfang August die Gelegenheit dazu. Für zwei Tage werden sowohl die Bonner Ausstellung im Pei-Haus als auch das Ergebnis des „Zentrums gegen Vertreibungen“ im Kronprinzenpalais zu besichtigen sein.

CHRISTIAN SEMLER