Elementare Gegenwärtigkeit

KULTURGESCHICHTE In der Konferenz „Tanz über Gräben“ beschäftigten sich Wissenschaftler und Künstler mit „Le Sacre du Printemps“ – 100 Jahre nach der skandalumwitterten Pariser Premiere des epochalen Balletts

Die „Sacre“-Musik selbst birgt schon einen Moment der Entfesselung

VON FRANZISKA BUHRE

Wenn die Wirkung einer Musik mit der einer psychoaktiven Substanz vergleichbar ist, so gehört „Le Sacre du Printemps“ (Das Frühlingsopfer) von Igor Strawinsky zu den Werken des 20. Jahrhunderts mit höchstem Abhängigkeitspotenzial. Mindestens ein kurzes Streicher- oder Bläsermotiv nistet sich beim Hören als gleichermaßen beharrlicher wie konspirativer Ohrwurm ein, die donnernden und ständig wechselnden Rhythmen des gesamten Orchesterapparats verwirren weiterhin die Hörgewohnheiten und nach 35 hypnotischen Minuten ist die totale Erschöpfung lustvoll erreicht.

Vom hochdosierten Musikkonsum ist die Lust am epochalen Skandal, welchen die Uraufführung des Balletts am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées auslöste, aber wohl kaum zu trennen. Zu heftig war das Werk, zu neuartig für das Pariser Publikum. Die gemeinschaftliche Arbeit Strawinskys mit dem Choreografen und Tänzer Vaslav Nijinsky und dem Bühnen- und Kostümbildner Nicholas Roerich ließ das Publikum randalieren – während Tänzer weinten und die Aufführung unterbrochen werden musste, sahen sich die im Saal anwesenden Künstler in eine neue Zeitrechnung katapultiert.

Wegweisende Bedeutung

Nach etlichen Aufführungen von Neuschöpfungen und Wiederaufnahmen des „Sacre“ rund um die Welt zum Hundertjährigen des Stücks fand das Jubiläumsjahr in Berlin mit der viertägigen Konferenz „Tanz über Gräben. 100 Jahre Le Sacre du Printemps“, die vergangenen Sonntag endete, einen krönenden Abschluss. Auf Initiative von Gabriele Brandstetter, Professorin für Tanzwissenschaft und Gründerin des Zentrums für Bewegungsforschung an der Freien Universität, kamen Experten aus den kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen mit Tänzern, Choreografen und Interessierten zusammen, um das damalige Ereignis, seine Spuren in der Geschichte der Moderne und seine bis heute wegweisende Bedeutung mit Vorträgen, Lecture-Performances, in Gesprächen und Aufführungen im Radialsystem und im HAU gebührend zu feiern.

Vor dem HAU 2 hackte so etwa der junge Performer Paul Schulz zum „Sacre“ einen Baumstamm mit der Axt entzwei, der Choregraf Adam Linder reinigte das Publikum anschließend mit einem Frühjahrsputz symbolisch vom Ballast der Tanzgeschichte, der Performer Tian Rotteveel ließ sich erschießen und durch Schüsse wiederbeleben und forderte mit Wolfsmaske schließlich vom Publikum ein Opfer, auf dass der nächste choreografische Frühling sicher kommen möge: ein rituelles Opfer zur Beschwörung eines neuen Frühlings, genau darum geht es eben in dem Stück.

Zu sehen war auch eine Rekonstruktion von Mary Wigmans „Sacre“-Version, welche die betagte Ausdruckstänzerin und Choreografin 1957 an der Deutschen Oper erstellt hat. Die Aufführung machte Prüderie und Patriarchat der 1950er Jahre erschreckend augenfällig und zeigte, wie wenig Wigman mit Strawinskys Musik wirklich anzufangen wusste. Junge Frauen und Männer formieren sich in dieser Inszenierung stets züchtig in der Distanz und unter den Argusaugen von drei Nonnen in hochgeschlossenen Gewändern, die ihrerseits in Zeitlupe weihevoll die Arme seitlich nach oben recken. Die fünf männlichen Priester bestimmen als echte Autoritäten und mit denselben pathetischen Gesten endgültig das Schicksal der „Auserwählten“, die in den Tod tanzen sollen. Dazwischen viel Laufen im Kreis, eckige Arme, Schütteln und Beugen des Oberkörpers nach vorne und hinten – so wie man das vor einem halben Jahrhundert im Tanz gemacht hat.

Rhythmisches Stampfen

Umso beeindruckender war in dem direkten Vergleich die „Dekonstruktion der Rekonstruktion“ von Millicent Hodson und Kenneth Archer mit Tänzern der Kompanie von Sasha Waltz.

Die beiden „Sacre“-Experten und Verantwortlichen für die Rekonstruktion von Nijinskys ursprünglicher Choreografie legten in exemplarischen Tanzszenen ihr Verfahren, ihre Quellen und ihren Zugang zur Musik offen. Die verschobenen Körperachsen, eingedrehte und angewinkelte Glieder, rhythmisches Stampfen und die Übertragung verschiedener Rhythmen in Kreise von Laufenden ergaben plötzlich Sinn: Hier eigneten sich die zeitgenössischen Tänzer die restriktiven und ungestümen Bewegungen im ständigen Ausgleich von Kraft und Loslassen an, während in den bisherigen „Sacre“-Interpretationen Balletttänzer vornehmlich die allumfassende Kontrolle ihres Körpers exerzierten.

Die „Sacre“-Musik selbst birgt schon, darauf verwies der Musikwissenschaftler Matthew McDonald, einen Moment der Entfesselung, der sich kontinuierlich steigert und nicht durch Hierarchien innerhalb des Kompositionsgefüges vorangetrieben wird. Der Ritualforscher Jan Assmann machte deutlich, wie sehr die Musik eine elementare Gegenwärtigkeit vollzieht, anstatt eine Geschichte zu Gehör zu bringen. Und Jack Halberstam, Theoretikerin der Gender Studies, rief dazu auf, sich an die Wildheit des Stücks zu halten und es als einen Vorläufer des Punk zu betrachten. Dazu zitierte sie auch Strawinsky selbst: „Meine Musik wird von Kindern und Tieren am besten verstanden.“