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: Viel zu wenig unbekannte Flugobjekte

Cristina Nord von der Croisette: Zwischen all den drängenden Botschaften kommt Sehnsucht nach erzählerischer Freiheit auf

Gena Rowlands sitzt in einem Lederfauteuil in der Salle Buñuel. Ihr Schatten fällt auf den unteren Rand der Leinwand hinter ihr, und dort läuft ein Ausschnitt aus „Opening Night“ (1978). Rowlands gibt darin eine Schauspielerin, die sich gegen das Älterwerden sträubt, sie sitzt in ihrer Garderobe, und sie macht die für sie so typische Geste: Ihr Unterarm und ihre Hand fliegen in einer wegwerfenden, vom Ellenbogen ausgehenden Bewegung nach vorn.

Heute ist Rowlands 75 Jahre alt, ihre Fingernägel leuchten rot, sie trägt eine weiße Kostümjacke und eine Sonnenbrille. Sie erzählt von ihren Theateranfängen, von den 50er-Jahren in New York. „Diese Zeit möchte ich um nichts in der Welt missen.“ Henri Béhar, ihr Gegenüber, fragt, wie es war, als sie John Cassavetes kennen lernte. „Er sah Sie im Theater, zwei Monate später waren Sie verheiratet, nicht wahr?“ Das Publikum lacht, Gena Rowlands lacht, aber nach einer Weile korrigiert sie: „Nach vier Monaten.“ Die Lakonie macht sich gut. Als jemand aus dem Publikum wissen will, ob sie beim Dreh von „Opening Night“ nach einem Streit mit John Cassavetes ihren Unmut auf ihren Filmehemann übertragen habe, sagt sie knapp und guter Dinge: „Das ist eine apokryphe Geschichte.“

Gena Rowlands’ Anekdoten rufen etwas wach, was sich in diesen Tagen an der Croisette rar macht: ein unabhängiges, lebendiges, an Improvisation und erzählerischer Freiheit reiches US-Kino. Richard Kellys Wettbewerbsbeitrag „Southland Tales“ etwa ist ein gefräßiges Stück Sciencefiction, das allerlei verwurstet: den Weltuntergang, den Krieg im Irak, die Traumata des Friendly Fire, die postmodernen Hippies von Venice Beach, ein Überwachungssystem namens US-IDent, einen ehrgeizigen Senator, eine neomarxistische Untergrundbewegung, die Pornoindustrie et cetera.

Als „ein Ufo“ im Wettbewerb hat die Tageszeitung Libération den Film bezeichnet, und das stimmt insofern, als „Southland Tales“ mit etwas arbeitet, was an der Croisette nicht allzu oft anzutreffen ist: mit den Schlüsselreizen des B-Kinos. Dwayne Johnson alias The Rock zeigt seinen muskulösen Oberkörper, und für die Untergrundaktivistinnen des Films haben Tura Satana und deren Gefährtinnen Modell gestanden. Trotzdem bleibt dieses Unbekannte Flugobjekt schwerfällig; Kelly bringt den Zuschauer umso weniger dazu, abzuheben, je mehr sein Film die nötige Dosis Entfesselung verfehlt.

Richard Linklater ist in diesem Jahr gleich mit zwei Filmen in Cannes vertreten, im Wettbewerb mit „Fast Food Nation“ und in der Sektion Un Certain Regard mit „A Scanner Darkly“, der am Donnerstag läuft. „Fast Food Nation“ ist eine Tragikomödie, angesiedelt vor dem Hintergrund der Fleisch- und Burgerindustrie. Wie sich Linklater die politische Agenda seines Filmes vorstellt, ist einer Szene zu entnehmen, in der eine Gruppe von Schülern darüber debattiert, welche verheerenden ökologischen Folgen die industrialisierte Viehzucht für ihre Stadt hat. Als die Teenager anschließend versuchen, die Kühe freizulassen, rühren sich die Tiere nicht von der Weide weg.

Eine schöne Führung des Plots ist das, insofern Linklater hier die großen Worte und hochfliegenden Ideale der jungen Politaktivisten mit dem Stumpfsinn der Kühe konfrontiert. Doch zugleich will er noch etwas anderes zeigen: Die Kühe, die die Freiheit nicht wagen, stehen für uns alle. So bekommt die zunächst so raffiniert gesetzte Szene einen unbeholfenen Zug.

„Fast Food Nation“ mündet in eine lange Kamerafahrt durch einen Schlachthof. Eine der Figuren, die von Catalina Sandino Moreno gespielte Einwanderin aus Mexiko, schreitet an der Seite des Vorarbeiters die Schlachtbänke ab, man sieht, wie die Kühe erschossen, gehäutet, in Hälften und Viertel zerlegt werden. Es gibt eine ähnliche Szene in „In einem Jahr mit 13 Monden“, einem Film von Rainer Werner Fassbinder. Ich erwähne sie, weil in der englischen DVD-Edition von Fassbinders Film Richard Linklater den Kommentar spricht. „In einem Jahr mit 13 Monden“ sei eines der Werke der Filmgeschichte, die sich ihm am nachdrücklichsten eingeprägt haben. Bei Fassbinder schreitet Volker Spengler in der Rolle der Transsexuellen Elvira an den toten Rindern entlang; dazu hört man Händels Oratorium. Es verschlägt einem den Atem, die Sprache und einiges mehr, wenn Spengler Verse aus der letzten Szene von Goethes „Torquato Tasso“ kreischt. Etwas Vergleichbares über Linklaters Film zu sagen wäre eine Übertreibung.

CRISTINA NORD