HEIMAT: FÜR DEN EINEN IST SIE EIN AKW, FÜR DEN ANDEREN EINE KLOAKE, ÜBER DER US-KAMPFJETS KREISEN
: Die Tiefkühlwaren der Kindheit

MARTIN REICHERT

Wenn jemand Heimweh hat und, sagen wir, ursprünglich aus Bad Segeberg stammt, dann kann er sich einen Beistelltisch von Möbel Kraft kaufen. Ein ziemlich kostspieliger Akt, um ein in der Regel nur kurzzeitig aufwallendes Gefühl zu befrieden. Stammt ein von solchen Emotionen geplagter Mensch aus Bayern und lebt, sagen wir, in Berlin, dann wird er ohne viel Federlesen eines der zahlreichen hauptstädtischen Lokale mit bayerischer Küche aufsuchen. Fischköpfe gehen ins Nordseerestaurant – und so weiter: Fast alle Migranten, ob innerdeutscher oder internationaler Provenienz, verfügen über eine kulinarische Infrastruktur, die ihren Bedarf nach dem Geschmack ihrer Kindheit zu stillen vermag.

Bei mir ist das die Tiefkühlpizza von Dr. Oetker. Das arme Kind, mag nun mancher denken. Richtig ist jedoch, dass sich in meiner Heimatstadt tief im Südwesten der Republik, fast schon in Frankreich, Europas größte „Pizzastraße“ befand und noch immer befindet. Wenn man von einem der umliegenden Berge in die Stadt im Tal hinabschaut, erscheint der Gebäudekomplex gar als architektonisches Zentrum der Region. Heimat, bei anderen ist sie eben ein AKW oder ein Braunkohlekraftwerk.

Die Kindheitserinnerung geht so: An bestimmten Tagen wurden auf dem Firmengelände sogenannte Bruchpizzen verkauft. Einige waren in der Mitte durchgebrochen, bei anderen fehlte ein Eckchen, aber ansonsten war die Qualität uneingeschränkt. Eine Pizza kostete nur 30 Pfennig – und sie schmeckte meinen Brüdern und mir ganz wunderbar, wenn wir abends vom Sport kamen, erschöpft und mit Bärenhunger. Natürlich bedrängten wir unsere Mutter, stets für Nachschub zu sorgen. Und natürlich war die Verabreichung der Bruchpizza kontingentiert, denn Kinder neigen nun mal zum Dauerjunken, wenn man sie nur lässt. Und doch ist diese TK-Pizza eine schöne Trash-Erinnerung, die ich in eine Reihe stellen kann mit der Erfahrung, dass die Wiese mit den vielen Büschen, auf der ich als Kind immer gespielt hatte, früher einmal eine Müllkippe gewesen war. Und der Bach, an dem wir fleißig Dämme bauten, eine Kloake. US-Kampfjets holten mich regelmäßig im Tiefflug von meinem gelben Fahrrad, weil ich so erschrocken war vom plötzlichen Krach. Und im Sommer hatte ich immer schlimme Verbrennungen, weil kleine blonde Jungs gnadenlos „raus an die frische Luft“ sollten, um „Sonne an die Haut zu lassen“.

Donnerstag

Ambros Waibel

Blicke

Freitag

Meike Laaff

Nullen und Einsen

Montag

Josef Winkler

Wortklauberei

Dienstag

Jacinta Nandi

Die gute Ausländerin

Mittwoch

Margarete Stokowski

Luft und Liebe

Heute, als Erwachsener, muss ich also nur zur nächsten Tankstelle gehen, um mir für circa vier Euro ein rundes Stück Kindheit zurückzukaufen, am liebsten in der Version „Salami“. Es ist ein bisschen störend, dass die hier verkauften Produkte unversehrt sind – aber ich könnte ja zur Not einmal mit der Faust darauf schlagen, schon wäre das Ding in der Mitte entzwei. Die Pizza ist noch immer in der gleichen Plastikfolie eingeschweißt – und dann, beim Verzehr vor der Glotze, ist es wieder da: das tolle Gefühl, wenn man sich den Gaumen mit der zu heißen Tomatensoße verbrennt. Früher konnte man sich allerdings keine Kochsendungen mit Sterneköchen dazu anschauen.