Gräber für die Opfer des „leisen Todes“

Auf einer internationalen Konferenz im türkischen Diyarbakir klagen Menschenrechtsorganisationen die Praxis staatlichen Verschwindenlassens an und fordern die Bestrafung der „Mörder“ im Staatsapparat. Sicherheitsbehörden reagieren gereizt

AUS DIYARBAKIR CHRISTIAN JAKOB

Eigentlich, sagt Haaime Tosun, verlange sie nur eine Selbstverständlichkeit. Rechenschaft und ein Grab für ihren Mann, mehr will sie nicht. Die Kurdin ist eine von 300 Teilnehmern des fünften „Kongresses gegen das Verschwindenlassen“, der am Samstag im osttürkischen Diyarbakir zu Ende ging. Der von ICAD (International Committee against Disappearances) organisierte Kongress fand nach 1996 zum zweiten Mal in der Türkei statt.

Haaime Tosun erzählt, wie am Abend des 19. Oktober 1995 vor ihrem Haus in Diyarbakir ein weißer Renault auftaucht. In dieser Gegend fährt vor allem die Polizei solche Autos. Als ihr Mann Fehmi, 36 Jahre alt und Landarbeiter, von der Arbeit zurückkehrt, beobachtet sie vom Balkon, wie Männer in Zivil ihn in das Auto zerren und davonfahren. Sie merkt sich das Kennzeichen und erstattet noch am selben Abend eine Vermisstenanzeige bei der Polizei. Dort verspricht man ihr, der Sache nachzugehen. Das ist das Letzte, was sie von der Polizei dazu hört.

Von 1990 bis 1994 hat ihr Mann im Gefängnis gesessen. Der Vorwurf: Unterstützung der PKK. Das, glaubt Haaime Tosun, ist auch der Grund für seine Verschleppung. Sie stellt Anträge bei allen möglichen Stellen. Ohne Erfolg. Der Staat bestreitet, etwas mit dem Verschwinden ihres Mannes zu tun zu haben. Bei der EU erwirkte sie einen Beschluss, der die Türkei auffordert, ihr Auskunft über die Verhaftung ihres Mannes zu erteilen. Sogar einen Sitz im UNO-Ausschuss zur Untersuchung von Verschwindenlassen erhielt sie. Nur über den Verbleib ihres Mannes weiß sie bis heute nichts. „Dass er noch lebt, glaube ich nicht“, sagt Tosun, „aber ich möchte ihn wenigstens bestatten.“

Damit ist sie nicht allein. Auf 1228 beziffert ICAD die Zahl der in der Türkei unter ungeklärten Umständen Verschwundenen – von der Organisation auch „leiser Tod“ genannt. Weltweit sollen es über 40.000 sein. Die Mehrzahl der türkischen Fälle stammt aus der Mitte der Neunzigerjahre. Damals erreichten die Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen PKK ihren Höhepunkt.

Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass einige kürzliche entdeckte Massengräber in der Südosttürkei aus dieser Zeit stammen. ICAD forderte auf der Konferenz auch die Öffnung dieser Massengräber. „Wir glauben, dass dort neben PKK-Kämpfern auch viele Zivilisten liegen, die verschleppt und getötet wurden“, sagt eine Sprecherin der türkischen ICAD-Sektion. Bisher weigert sich der Staat, die Gräber exhumieren zu lassen. „Forensische Untersuchungen könnten vielfach den Nachweis extralegaler staatlicher Tötungen erbringen“, so die ICAD-Sprecherin.

Seit im März bei Ausschreitungen drei Menschen getötet wurden, ist die Lage in Diyarbakir angespannt. Entsprechend unwillig nahmen die Sicherheitsbehörden den Kongress auf. Der geplante Besuch zweier Massengräber sowie ein Kulturfest wurden verboten. Zudem wurde den Kongressteilnehmern die Verwendung des Begriffs „Mörder“ im Zusammenhang mit Staatsorganen untersagt. Viele Angehörige fordern auf dem Podium dennoch die Bestrafung der „Mörder“ im Staatsapparat. Einige Redner müssen ihre Personalien feststellen lassen.

Am Donnerstagnachmittag wird eine Übersetzerin vorübergehend festgenommen. Als daraufhin eine deutsche Delegierte die Polizei auffordert, das Kongresszentrum zu verlassen, lässt die Polizei den Saal räumen und kündigt ein Verbot des Fortgangs der Konferenz an. Das Verbot wird am Abend zurückgezogen, die Überwachung fortgesetzt. Die Abschlusskundgebung am Samstag auf einem Friedhof in Diyarbakir begleitet ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot.