DESIGNER BEIM KEHRAUS
: Von Bürsten und Besen

Über Arbeit und Kunst in Behindertenwerkstätten

VON HELMUT HÖGE

Die Blindenanstalt in der Kreuzberger Oranienstraße, Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, war immer ein etwas düsterer Ort (Blinde brauchen keinen Lichtzauber), ebenso der dazugehörige große Laden, in dem man teure Naturbürsten und -besen kaufen konnte. 1998 stand plötzlich „Die imaginäre Manufaktur“ auf den Schaufenstern – und die Produkte wurden immer farbiger und immer mehr.

Ein ähnlich buntes Projekt beflügelte auch die Designer der tschechischen Universität in Usti nad labem, als sie 2009 eine Kooperation mit der örtlichen Blindengenossenschaft Karko eingingen, in der ebenfalls Bürsten hergestellt werden, daneben noch Vogelfutterhäuschen. Auf einem Kongress über Genossenschaften im Berliner Collegium Hungaricum berichteten die tschechischen Dozenten und Studenten kürzlich über ihre Erfahrungen. Der 1953 gegründeten und mit der Zeit mürbe gewordenen Genossenschaft Karko fehlten Absatzmöglichkeiten für ihre teuren Handarbeitsprodukte. Das Designteam machte sich frisch an die Arbeit: Es redesignte einige alte und entwarf vier neue Produkte (eine Bürste, zwei Tischleuchten und ein Katzenklo), dann stellte es ein neues Genossenschaftslogo und einige Werbetafeln vor, die später in der Stadt aufgestellt wurden. Die ganze Zeit kamen sich die Designer dabei jedoch wie „unerwünschte Gäste“ vor: Die Blindengenossenschaft hätte lieber einen Großabnehmer für nur wenige Produkte, dafür in riesigen Stückzahlen gehabt.

Altes Handwerk

Anders die Kreuzberger Blindenanstalt: Dort werden immer mehr alte Handwerke eingerichtet, seitdem die Union sozialer Einrichtungen die unter Denkmalschutz stehende staatliche Anstalt 2005 übernommen hat. Die USE ist eine gemeinnützige GmbH mit über 350 nichtbehinderten und mehr als 750 behinderten Mitarbeitern an zwölf Standorten in Berlin und Brandenburg. Auch hier brachten einst zwei Designdozenten neben ihrer Idee einer „imaginären Manufaktur“ eine Studentengruppe mit ins Spiel. Aber deren Enthusiasmus trägt noch heute, obwohl ihre Kooperation mit der Blindenanstalt bereits im Jahr 2004 auslief.

Inzwischen gibt es neben der Bürstenmacherei, in der 150 Produkte hergestellt werden, noch eine Flechtmanufaktur (für 50 Produkte), eine Buchbinderei, ein Café (in der früheren Patisserie) und eine Floristik, die sich auf „Flobs“ spezialisiert hat: „floristische Objekte“. Diese Abteilung sowie eine Malerei (mit Airbrush-Studio), eine Tischlerei und eine Hauswirtschaft sind überdies Ausbildungsbetriebe.

Seit 2008 beschäftigt die Anstalt einen neuen Designer, daneben entwirft auch der Leiter der Bürsteneinzieherei gelegentlich Produkt: zum Beispiel das Brandenburger Tor, den Berliner Bären und den Fernsehturm als Bürste. Diese Produkte kommen dem Hang der deutschen Touristen entgegen, Souvenirs zu kaufen, die Regionalspezifisches mit einem allgemeinen Gebrauchswert verbinden. So gehören in den Seebädern „Muscheln mit Thermometer“ zu den beliebtesten Souvenirs. Was sich nicht gut verkauft im Laden der Blindenanstalt – etwa die Fußmatten aus der Flechterei – fliegt aus dem Katalog.

Seit einem Jahr werden die Produkte auch übers Internet vermarktet, daneben kann man sie noch im Laden des New Yorker Museums of Modern Art kaufen. Ihre Rohware bezieht die Anstalt zum Teil aus Ungarn: die Naturhaare bzw. -borsten und die Holzkörper sowie die Weidenruten zum Beispiel (die Blindengenossenschaft in Usti nad labem verarbeitet dagegen ausschließlich Plastikborsten).

Der Träger der Anstalt – die USE – war bisher vor allem im Dienstleistungs- und im Gastronomiebereich aktiv gewesen, und zwar vorwiegend mit geistig Behinderten. Etwa 70 von ihnen arbeiten nun auch in der Blindenanstalt, das heißt in deren genau genommen „nichtimaginären Manufakturen“. Daneben leben dort noch neun Blinde. Am 9. Juni veranstalten sie ein großes „Hoffest“.