Eine neue Mauer

AUS PEKING GEORG BLUME

Schon Mao Tse-tung dichtete über den nun fertig gestellten Drei-Schluchten-Damm: „Die große Steinmauer wird flussaufwärts im Westen stehen, und die Berggöttin, wenn sie dann noch da ist, wird sich über die veränderte Welt wundern.“ Jetzt steht die Mauer also wirklich. Am Samstag gossen Arbeiter die letzten Kubikmeter Beton – von insgesamt 27 Millionen.

China hat nun eine neue Große Mauer. Sie führt mitten durch den Jangtze, Chinas größten Fluss. Sie ist 185 Meter hoch und 2.309 Meter lang und begrenzt einen 660 Kilometer langen Stausee. Sie ist Teil des größten Wasserkraftwerks der Welt, das in zwei Jahren voll betriebsfertig sein soll. Sie hält genug Wasser, um damit 18.000 Megawatt Strom zu erzeugen und ganz Shanghai mit Elektrizität zu versorgen. Sie soll flussabwärts 150 Millionen Flussanrainer vor Überflutungen schützen. Sie ist vielleicht das letzte und größte Denkmal für den maoistischen Glauben an die Überlegenheit des chinesischen Sozialismus.

Insofern schien es durchaus angemessen, dass es am Samstag die zuletzt 7.000 Bauarbeiter des Staudamms waren, die die Fertigstellung der Hauptdammmauer feierten. Männer in offenen Hemden mit gelben Bauhelmen, die vor den laufenden Kameras des chinesischen Staatsfernsehens ihre Ingenieure in die Luft warfen und hochleben ließen. Die Konfetti über die Mauer warfen und eine Marschkapelle beklatschten.

Wie anders aber hatte vor neun Jahren die Eröffnungsfeier der Großbaustelle ausgesehen! Da waren der damalige Parteichef Jiang Zemin und sein Premierminister Li Peng persönlich erschienen. Doch am Samstag fehlten ihre Nachfolger. Offiziell gab es dafür die Erklärung, dass das Gesamtprojekt erst in zwei Jahren fertig gestellt würde. „Wir dürfen nicht selbstzufrieden werden und in unseren Anstrengungen nachlassen. Wir müssen Qualität und Sicherheit weiterhin Priorität einräumen“, betonte Li Yongan, der Leiter des Drei-Schluchten-Projekts. Dass Li der höchstrangige KP-Kader war, der am Samstag sprach, zeigte gleichwohl, wie umstritten der Drei-Schluchten-Damm heute auch in China ist. Kein Politbüromitglied will sich mehr vor ihm fotografieren lassen.

Die Zweifel setzten schon 1993 ein, als ein Drittel der Abgeordneten im Nationalen Volkskongress dem Projekt nicht zustimmen wollten. In der Folge verbat sich die Parteipropaganda lange Zeit jede weitere Kritik. Umso vehementer griffen Umweltschützer im Ausland den chinesischen Gigantismus an – wegen der Umsiedlung von 1,3 Millionen Menschen und den unvorhersehbaren ökologischen Folgen. Im Zuge der Bauarbeiten aber kamen auch in China die Kritiker wieder zu Wort: Die Rede war von Rissen und Löchern im Beton der Staumauer – und massiver Korruption. Auf Li Peng, der als Vater des Projekts gilt, folgte als Premierminister Zhu Rongji, der wiederholt die Qualitätsprobleme beim Bau der Staumauer monierte. Chinesische Zeitungen berichten von einem 57-Millionen-Dollar-Fonds für die Umsiedlungshilfe, der vollständig verloren ging. Hunderte von KP-Kadern wurden im Zusammenhang mit dem Projekt der Korruption überführt. In Peking sah sich der Staatsrat wegen der anhaltenden Probleme zur Gründung einer Expertengruppe gezwungen, die in den letzten Jahren den Bau überwachte.

All das hatte zur Folge, dass die Feiern bescheiden ausfielen. Was bleibt, sind die Ängste vor einem Unfall. Sollte der Damm einem Hochwasser nicht standhalten, wäre das Überleben von Millionen Menschen bedroht. Dies ist die Kehrseite des erhofften Flutschutzes. Und die Angst ist offenbar groß genug, um der KP-Spitze heute das Jubeln zu verbieten.