berliner szenen Der Landausflug

Reserven mobilisieren

Es gibt sie noch, diese Sonntagnachmittagsausflüge, wo man wie Märklin persönlich durch die brandenburgische Modelleisenbahnlandschaft gleitet. Auf der endlosen Spanplattenebene eines von diesen Dörfern, die nur aus zwei Straßen bestehen. Das gelbe Ortsschild nennt einen Namen irgendwo zwischen Scharlach und Schlagloch.

Am Feldrain grüßt ein verfallener Plattenbau: Clara-Zetkin-Oberschule. Daneben ein paar Betonschuppen der ehemaligen LPG. An der einzigen Kreuzung behaupten zwei alte Emailschilder auf beigem Rauputz: „Straße des Friedens“ und „Straße der Einheit“. Dann der Dorfanger mit sauber verfugter Feldsteinkirche – und maßstabsgetreu dazu noch ein Spritzenhaus der Feuerwehr, der Schlauchturm aus ochsenblutrotem Holz. Am Zaun des winzigen Friedhofs hängt ein überdachtes Schild, das von weitem wie ein Kruzifix aussieht. Tatsächlich wird es auch von ein paar Rosen umrankt. Doch statt Schmerzensmann verkündet eine leicht verblichene Schreibschrift das Urteil: „Schönes & produktives Dorf“.

Die Zeit scheint still zu stehen, und ich wäre nicht überrascht, statt echten Menschen auf Plastinate zu stoßen. Doch als ich vor dem Bahnübergang am Ende des Dorfs an den automatischen Halbschranken warten muss, kommt ein junges Elternpaar auf Fahrrädern hinzu, hinter ihnen in einiger Entfernung ein behelmtes Kind, erschöpft und weinend. „Ich bin sehr enttäuscht von dir!“, ruft die Mutter ihm zu. Und der Vater ergänzt: „Bald kommst du in die Schule, da beginnt der Ernst des Lebens! Da musst du weitermachen, auch wenn du nicht mehr kannst, und deine Reserven mobilisieren!“ Das Kind weint noch lauter, und Gott sei Dank kommt endlich der Zug. ANSGAR WARNER