Von den Mauern getextet

Der New Yorker Paul Wallfisch hat einen schicksalhaften Monat in Berlin gelebt. Auf der neuen Platte seiner Band Botanica ist die Stadt jetzt überall zu hören. Botanica spielen heute in der Kulturbrauerei

VON THOMAS WINKLER

Es war Juni und es regnete in Berlin. Paul Wallfisch war trotzdem begeistert. Nicht nur, dass er endlich Zeit fand, „aus dem Fenster zu gucken und nachzudenken“, um an neuen Songs für seine Band Botanica zu schreiben. Nicht nur, dass die Kreuzberger Wohnung, die ihm ein Freund überlassen hatte, gerade mal 140 Euro für diesen einen Monat kosten sollte, ein Betrag, für den man „in New York nicht mal einen Parkplatz mieten könnte“. Der klassisch ausgebildete Pianist stieß auch noch überall auf die Flügel der Leipziger Pianofortefabrik Blüthner: Der erste stand gleich in der Wohnung, der nächste im Grünen Salon, der dritte in einem Studio und irgendwo gab es auch noch einen vierten. Und alle klangen „so warm“.

Nach Berlin zu kommen, „das war Schicksal“, sagt Wallfisch knapp ein Jahr nach seinem Kreativurlaub. Und die schicksalhaften Spuren finden sich jetzt auf „Berlin Hi-Fi“, dem neuen Album von Botanica. Es sind keine musikalischen Spuren: Die Bands, die ihm auf seinen nächtlichen Streifzügen im Berliner Monat begegneten, fand er eher belanglos. „Zu viele, die Nick Cave und Iggy Pop kopieren.“ Stattdessen fanden Eindrücke eines nicht vorbelasteten Urbanbeobachters ihren Weg auf die Platte: Mal nahezu ungefiltert wie im Titelsong, dessen Text aus Werbeslogans und Graffiti-Sprüchen besteht, die Wallfisch direkt von Berliner Mauern zitiert. Mal eher als grundsätzliche Stimmung, hat der Gast die Hauptstadt doch – im Gegensatz zu ihrer Selbstwahrnehmung – als „leicht und hoffnungsvoll“ empfunden, einen Platz, an dem Aufbruch spürbar ist: „Das mag naiv sein, aber Berlin kam mir vor wie eine Hippie-Stadt.“

So lässt sich „Berlin Hi-Fi“ nun hören als musikalisches Porträt einer Kapitale: „Perfect Spot“ ist ein leichtfüßiges Lied über den Sommer und entstand in einem Straßencafé, „Concrete Shoes“ dagegen erinnert böse grummelnd an die Achtzigerjahre in der Mauerstadt. „Fame“ ist ein Dramolett im Musicalstil, „How“ ein osteuropäisches Hochzeitslied im Hoppelrhythmus. Überhaupt finden auf „Berlin Hi-Fi“ Ost und West, Americana und russische Folklore recht mühelos zueinander. Es musste wohl erst ein Amerikaner daherkommen, um die lange schon beschworene Drehscheibe endlich mal in Bewegung zu setzen. Das allerdings, sagt Wallfisch, sei nicht unbedingt ein Verdienst seines Berliner Aufenthalts: „Ich bin ein jüdischer Zigeuner mit Wurzeln in Rumänien, für mich ist eher New York das Scharnier zwischen Ost und West“.

Wallfisch muss es wissen, ist er doch ein Reisender in Sachen Musik. Als er in mehr als vierzig Ländern auf einer Bühne gestanden hatte, hörte er auf mitzuzählen. Er ist in Guinea im Fernsehen aufgetreten, hat in Tanger versucht, Paul Bowles zu interviewen, Oldtimer gesammelt in Los Angeles, sechs Jahre in Paris gelebt und dort Jacques Brel entdeckt. Albanien fehlt noch auf seiner Liste, da will er noch mal hin. Er hat lange im Hintergrund die Tasten gedrückt für Bands wie Firewater und Love And Rockets, hat gearbeitet mit Stan Ridgeway, Sylvain Sylvain oder Johnny Hallyday und Filmmusik aufgenommen für die B-Picture-Legende Roger Corman. Ende der Neunziger gründete er dann Botanica als Vehikel für seine eigenen Songs.

Diese Songs erzählen außer von Berlin von Leidenschaft und Verlangen, Liebe und Tod. Das tun sie mit großer Geste: Wallfisch gurgelt jeden dreiminütigen Popsong zum Epos, macht aus einer einfachen Melodie großes Kino. „Ich bin altmodisch“, sagt er, „ein Nostalgiker.“ Seine Musik ist für ihn kein Pop, sondern „Kammermusik für das 21. Jahrhundert“. Im nächsten Moment nennt er sich einen „Maschinenstürmer“, der „kämpft gegen die Entwertung der Worte“, erzählt von seinem Lieblingsautor Milan Kundera, zieht schließlich zwei Bücher aus seiner Tasche, schildert detailliert den Inhalt, fuchtelt mit den Armen und redet und redet. Irgendwann muss Paul Wallfisch dann doch gehen. Nach Hause. Wo immer das demnächst ist.

Botanica: „Berlin Hi-Fi“ (Rest A Dog/ Alive!); Konzert heute Abend, 21 Uhr, im Maschinenhaus der Kulturbrauerei