Die das Thema nicht sehen wollen

ABSCHIEBEPOLITIK Während die Innenminister in Hamburg konferieren, befassen sie sich nicht mit den Todesfällen in der dortigen Abschiebehaft, beklagen am Rande der Konferenz Flüchtlingsorganisationen

Abschiebehaft steht auf dem Prüfstand, beteuert Hamburgs Justizsenator Till Steffen

Noch bis heute findet in Hamburg die erste Runde der diesjährigen Innenministerkonferenzen (IMK) statt – unter Leitung von Hamburgs Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU). Obwohl dieser für die Selbsttötungen zweier Menschen in der Hamburger Abschiebehaft binnen weniger Wochen die politische Verantwortung trägt, stehe das Thema Abschiebehaft nicht auf der IMK-Tagesordnung, kritisierten gestern Flüchtlingsorganisationen. Unter dem Motto „Bleiberecht statt noch mehr Tote“ forderten der Hamburger Flüchtlingsrat und der Arbeitskreis Pro Asyl eine öffentliche Diskussion zur deutschen Flüchtlingspolitik.

Der Suizid von David M. am 8. März sorgte bundesweit für Kontroversen. Obwohl die Behörden davon ausgegangen waren, dass der Georgier erst 17 Jahre alt war und daher unter die UN-Kinderrechtskonvention gefallen wäre, kam er auf Betreiben der Ausländerbehörde in Abschiebehaft.

Möglich war das, weil die Bundesrepublik im April 1992 bei der Ratifizierung der Konvention einen „Vorbehalt“ geltend gemacht hatte: Demnach dürfen Flüchtlinge über 16 Jahren in Abschiebhaft genommen werden, statt sie in die Obhut eines Jugendamtes zu geben. Weitere Grundlage der Maßnahme bildeten die „Dublin II-Normen“ der EU: Sie erlauben es, Flüchtlinge ohne gültige Papiere unverzüglich in Abschiebehaft zu nehmen und in ein anderes EU-Land „zurückzuführen“, sofern sie dort zuvor Asyl beantragt haben.

Wenige Tage nach dem Tod von David M. ordnete der Hamburger Innensenator an, fortan keine minderjährigen Flüchtlinge mehr in Abschiebehaft zu nehmen.

Auf Druck SPD-regierter Bundesländer ist der erwähnte Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention inzwischen gekippt. Nach Ansicht des Hamburger Flüchtlingsrats ändert das in der Praxis aber nur wenig: Derzeit werde das Gros der Betroffenen statt an ein Jugendamt an die Ausländerbehörde überstellt, erklärte die Organisation gestern. Dort würden dann mehr als 56 Prozent der Jugendlichen mittels „willkürlicher Altersfiktivsetzungen“ zu Erwachsenen erklärt – und in andere Bundesländer umverteilt.

Der zweite Hamburger Todesfall in kurzer Zeit fachte die Diskussion weiter an: Im Februar 2010 war die 34-jährige Indonesierin Yeni P. ohne Papiere bei einer Razzia in einem Bordell aufgegriffen worden und in Untersuchungshaft gekommen. Als P. wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz zu drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde, ging die Untersuchungshaft prompt in Abschiebehaft über. Am 16. April erhängte sie sich aus Angst vor der Abschiebung in ihrer Zelle.

Von den Suizidabsichten wollte in der Frauenhaftanstalt niemand etwas bemerkt haben. Hamburgs grüner Justizsenator Till Steffen kündigte daraufhin an, alle Maßnahmen der Abschiebehaft ohne Tabus auf den Prüfstand zu stellen. KAI VON APPEN

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