Die neuen Verhältnisse

HESSEN Nach wochenlangen Sondierungsgesprächen will die CDU mit den Grünen regieren. Und gegen eine knallrote Opposition aus SPD und Linken

AUS WIESBADEN ARNO FRANK

Es war ein langer Marsch von ganz links bis an diesen obskuren Ort, an dem hierzulande die „Mitte der Gesellschaft“ vermutet wird. In Hessen werden die Grünen, 33 Jahre nach ihrer Gründung, erstmals mit der CDU eine Regierung auf Landesebene bilden. Die Vorentscheidung sollte am Freitagabend fallen. Offiziell galt noch bis zum Redaktionsschluss der taz nur, dass Landesvorstand und Landtagsfraktion der Union für eine der beiden Möglichkeiten optieren würde – Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün. Nach taz-Informationen aus den Kreisen von CDU und Grünen stand aber schon am Morgen fest, dass die Union den Grünen Koalitionsgespräche anbieten würde. Und dass die Grünen dieses Angebot annehmen.

Nach der Landtagswahl am 22. September war zunächst über die üblichen „hessischen Verhältnisse“ geklagt worden, weil sich wieder rechnerisch keine stabile Mehrheit für eines der beiden politischen Lager ergeben wollte. Für Rot-Grün, die mit der gemeinsamen Forderung nach einem „Politikwechsel“ in den Wahlkampf gezogen waren, hätte es nur unter Einbeziehung der ungeliebten Linkspartei gereicht – ein Wagnis gerade für die SPD, die in ähnlicher Konstellation 2008 unter der damaligen Vorsitzenden Andrea Ypsilanti Schiffbruch erlitten hatte. Der CDU kam der bewährte Koalitionspartner zwar nicht ganz abhanden, aber eine tödlich geschwächte FDP konnte der Union die wenigen fehlenden Stimmen zur Mehrheit nicht mehr liefern.

Also wurde sondiert, länger als jemals zuvor in der Geschichte des Landes. Die CDU sondierte mit den Grünen. Die Grünen sondierten mit SPD und Linkspartei. Die SPD sondierte mit der CDU. Ziel waren „stabile Verhältnisse“, die mindestens über eine Legislaturperiode tragen sollten. Die Sozialdemokraten und mehr noch die Grünen mochten der Linkspartei das nötige Vertrauen dazu nicht entgegenbringen. Eine Tolerierung durch die Linke kam nicht infrage, zumal das Ypsilanti-Debakel gerade des rechten Flügels der SPD noch immer wie ein Damoklesschwert über der Partei hängt – ganz zu schweigen vom gesellschaftlichen Druck, der auf solch einem breiten Linksbündnis gelastet hätte. Am Ende aber ging es um Zahlen.

Einer rot-grün-roten Koalition hätte vor allem das Geld gefehlt, um Projekte mit „Strahlkraft“ umzusetzen. Welches Signal hätte die lange ersehnte „linke strukturelle Mehrheit“ ausgesendet, wenn die ersten parlamentarischen Amtshandlungen in Stellenstreichungen und Sozialkürzungen bestanden hätten? Hessen ist überschuldet, zugleich steht die Schuldenbremse in der Verfassung.

In der Kritik stand vor allem die Linkspartei mit ihrer – gescheiterten Klage – gegen die Schuldenbremse. Dabei war es die CDU, die in ihren bisher 15 Regierungsjahren die Hälfte der rund 40 Milliarden Euro Schulden des Landes angehäuft hat. Weil aber die Linke sich beim Sparen nicht weit genug bewegte und weiterhin von neuem Geld träumte, blieb für SPD und Grüne nur die CDU als Partner einer möglichen Regierung.

Und die behielt die Zügel in der Hand. Während SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel zuletzt der rot-grün-roten Option intern eine Absage erteilte, dafür die Möglichkeit einer Minderheitsregierung ins Spiel brachte und zuvor noch mit der Basis beraten wollte, rollte Bouffier Al-Wazir bereits den grünen Teppich aus: eine gütliche Einigung im Streit um den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Die Grünen werteten Signale der CDU, über den umstrittenen Bau von Terminal 3 könne „noch einmal nachgedacht“ werden, als ausreichendes Entgegenkommen – der SPD hätten sie an dieser Stelle auch nicht mehr abverhandeln können (siehe unten).

Nun sortiert sich also, wo kein politisches Lager ausreichende Mehrheiten organisieren konnte, kurzerhand die komplette politische Landschaft um. Die neue Tektonik ist vielversprechend. Auf der einen Seite regiert im hessischen Landtag der neue bürgerlich-grüne Block mit 61 von 110 Sitzen. Auf der anderen Seite wird eine ebenso kräftige wie knallrote Opposition aus SPD und Linkspartei auch nicht anders können, als hin und wieder an einem Strang zu ziehen. Auf jeden Fall wird man sich künftig unter „hessischen Verhältnissen“ etwas ganz anderes vorstellen müssen.