Das Recht auf Bildung

Eine gestern vom Institut für Menschenrechte veröffentlichte Studie zeigt: Wer ausländische Eltern hat, männlich und lernbehindert ist, der hat in Deutschland kaum Chancen in der Schule. Die Schule soll sich daher stärker an den unterschiedlichen Lernausgangslagen von Kindern orientieren

VON SASCHA TEGTMEIER

Das katholische Arbeitermädchen vom Lande wird vom großstädtischen Migrantenjungen abgelöst. Während sie in den Sechzigerjahren die Verliererin des Bildungssystems war, ist er es nun – vierzig Jahre später. Das geht aus der gestern veröffentlichten Studie „Das Menschenrecht auf Bildung und der Schutz vor Diskriminierung“ vom Deutschen Institut für Menschenrechte hervor.

Erstmals bündelt die Untersuchung der Sozialwissenschaftlerin Mona Motakef eine Vielzahl von empirischen Studien auf die Frage hin, inwiefern in Deutschland das in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ festgeschriebene Recht auf Bildung verwirklicht wird. Die Autorin Motakef empfiehlt als Fazit ihrer Untersuchung eine „stärkere Orientierung von Schule und frühkindlicher Erziehung an den unterschiedlichen Lernausgangslagen von Kindern“. Nur so könnte die Schule frei von Diskriminierungen sein, so Motakef. Sie fordert die Einführung der Ganztagsschule.

Das Recht auf Bildung sei nicht nur ein „eigenständiges Menschenrecht“, sondern auch ein zentrales Instrument, um den Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen, sagte Heiner Bielefeldt, Leiter des Menschenrechtsinstituts. In der bildungspolitischen Diskussion spiele der Menschenrechtsansatz bislang eine eher untergeordnete Rolle.

Die Studie will das ändern. Dabei liest sie sich bereits als Vorgeschmack dessen, was sich wohl in dem Bericht des UN-Beauftragten für Menschenrechte, Vernon Muñoz, finden wird. Muñoz hatte nach einem zehntägigen Besuch von deutschen Schulen im Februar die Menschenrechtsverletzungen bemängelt, die sich aus der Chancenungleichheit im Bildungssystem ergeben. Er hatte vor allem sozialschwache Kindern und solchen mit Migrationshintergrund benachteiligt gesehen.

Die Studie bestätigt nicht nur die Eindrücke des UN-Beauftragten, sondern arbeitet einige Details der Diskriminierungen im Bildungssystem heraus. Die Faktoren Armut, Migrationshintergrund, Geschlecht und sonderpädagogischer Förderbedarf hängen demnach eng miteinander zusammen.

Die geringen Chancen für männliche Kinder mit Migrationshintergrund werden in der neuen Studie durch mehrere Faktoren erklärt: Zunächst haben Kinder, die aus einem finanziell und sozial schwachen Haushalt stammen, erwiesenermaßen geringere Bildungschancen. „Bildung und Armut stehen in einem wechselseitigen Verhältnis“, heißt es in der Studie. Die Chance eines Kindes aus einem Elternhaus mit hohem Sozialstatus, auf das Gymnasium zu kommen, liegt 2,7 mal höher als die Chance eines Facharbeiterkindes. Migranten wiederum haben eine größere Wahrscheinlichkeit, aus einer solchen Familie zu stammen. Doch haben sie noch wesentlich geringere Chancen als ausschließlich sozial Benachteiligte. Das liegt laut der Menschenrechtsstudie auch daran, dass die Schule nicht auf die besondere Ausgangssituation der Migrantenschüler eingehe. Die Autorin spricht sich daher vor allem für die Förderung der Bilingualität der Kinder aus.

Warum jedoch schneiden männliche Zuwanderer bei Bildungstests durchgängig schlechter ab als weibliche? In den Sechzigerjahren noch wurden gerade Mädchen im Unterricht benachteiligt. Mittlerweile gibt es insgesamt mehr Frauen als Männer, die das Abitur machen, und Jungen sind sowohl in Hauptschulen als auch Sonderschulen weitaus in der Überzahl. Die Autorin der Menschenrechtsstudie führt dies auf das Männlichkeitsbild der Schüler zurück. Ein erfolgreicher Schulabschluss gelte bei den Jugendlichen als unmännlich.

Eine besonders drastische Verletzung des Menschenrechts auf Bildung stellt Motakef in ihrer Studie bei asylsuchenden Kindern und solchen ohne legalen Aufenthaltsstatus fest – viele von ihnen können überhaupt nicht in die Schule gehen. Motakef verlangt deswegen eine „allgemeine Schulpflicht“ – beziehungsweise das Recht auf Bildung für alle.