AUF EIN GLAS WEIN: Charmanter Betrug
Die Barfrau in meiner Stammkneipe sagt: „Siehst du diese Frau dort drüben? Sobald ich ihr den Wein bringe, beginnt sie ihr Spiel. Sie kramt dann immer verzweifelt in ihrer Handtasche und behauptet mit unschuldigem Gesichtsausdruck, dass sie ihren Geldbeutel verloren habe. Die nahe stehenden Gäste hören ihre herzzerreißende Story und laden sie auf den Wein ein. Ich verrate sie nie. Denn sie bestiehlt ja niemanden.“
Das Spiel beginnt: Die Barfrau bringt ihr den Wein. Die Frau reagiert genau wie vorhergesagt. Ein paar Gäste werden auf sie aufmerksam. Nach kurzer Zeit erklärt sich eine Gruppe Englisch sprechender Touristen dazu bereit, das Glas Wein zu bezahlen.
Ich beobachte die Frau. Sie dürfte so Mitte zwanzig sein, hat glattes schwarzes schulterlanges Haar und trägt einen Kamelhaarmantel mit Bindegürtel um die schlanke Taille. Sie ist sehr hübsch. Wäre sie etwas größer, könnte man sie für ein Model halten. Ihr elegantes Erscheinungsbild verleiht der Geschichte vom verlorenen Geldbeutel die nötige Glaubwürdigkeit. Nach etwa einer halben Stunde verlässt sie mit den Touristen die Bar. Ein paar Minuten später kommt sie wieder herein und stellt sich, ganz so, als ob nichts passiert sei, in eine andere Ecke der Bar. Der Wein wird gebracht, sie kramt in ihrer Handtasche, verwickelt zwei Männer ins Gespräch, und schon ist sie eingeladen. Sie scheint eine sehr charmante Betrügerin zu sein. Sie erinnert mich an die bezaubernde Audrey Hepburn im Film „Frühstück bei Tiffany“.
Es ist spät geworden, ich muss leider nach Hause. Während ich bezahle, sage ich zur Barfrau: „Pass auf, ich mag unsere kleine Betrügerin. Du ziehst mir jetzt noch einen Rotwein ab und bringst ihr bitte den Wein und sagst ihr, dass ein fremder Verehrer, der die Bar bereits verlassen hat, sie gern auf dieses Glas Wein einladen würde.“
ALEM GRABOVAC
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