„Kinder sind sehr, sehr tapfer“

GEWALT I Für Kinder können Gewalterfahrungen in der Familie gravierende Folgen haben, sagt die Psychologin Canan Braun. Manche werden selbst aggressiv und finden Schlagen ganz normal

■ 40, ist Psychologin und arbeitet seit 2010 beim Verein „Zufluchtswohnungen für Frauen in Berlin“ Zuff. Am morgigen Dienstag, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, hält sie einen Vortrag über die Folgen häuslicher Gewalt für Kinder: 11.45 Uhr, Rathaus Kreuzberg, Yorckstraße 4–11.

INTERVIEW SUSANNE MEMARNIA

taz: Frau Braun, Sie betreuen die Kinder der Frauen, die beim Verein „Zufluchtswohnungen für Frauen“ (Zuff) Hilfe vor gewalttätigen Männern finden. Wie verhalten sich die Kinder?

Canan Braun: Zunächst mal: Kinder sind sehr, sehr tapfer. Oft genug retten sie ihre Mütter, indem sie sich zwischen Mutter und Vater werfen, womöglich dabei selbst verletzt werden. Oder sie rufen die Polizei, alarmieren die Nachbarn. Dann müssen wir hier gucken, dass das Kind aus dieser Rolle wieder herausfindet – denn es braucht ja selbst Schutz. Insgesamt kann ich sagen: Alle Kinder sind bedrückt, getroffen, aufgeregt. Oft stellen sie dann Fragen: Was ist passiert? Warum haben sich Mama und Papa gestritten? Was wird jetzt passieren, muss ich die Schule verlassen?

Oft ist es nicht das erste Mal, dass Gewalt passiert, wenn die Frauen zu Ihnen kommen.

Genau, die Kinder haben sich oft schon daran gewöhnt und Strategien entwickelt, damit umzugehen. Das macht es noch schwieriger. Sie haben gelernt, innerlich abwesend zu sein, damit es sie nicht so trifft. Manchmal sind Kinder unglaublich angepasst und sehr brav, um nicht aufzufallen. Manche Kinder haben sehr wenig Mimik und können sich nicht gut ausdrücken.

Was können Sie da tun?

Solche Dinge anzugehen, braucht Zeit. Bei uns bleiben die Frauen im Schnitt nur vier, fünf Monate. Da ist es erstmal wichtig, die Mutter-Kind-Beziehung wieder zu stärken, denn durch die Gewalt ist die Kommunikation zwischen Mutter und Kind oft unterbrochen oder schwierig. Wie geht es meinem Kind damit, wie rede ich mit ihm oder ihr über die Ereignisse? Wie schütze ich mein Kind davor? Das Kind wiederum hat viele Bilder im Kopf, weiß aber nicht, ob es mit der Mutter drüber sprechen kann. Ob das der Mutter nicht zu viel ist? So entsteht Distanz. Und ich unterstütze die Mutter darin, den Dialog zum Kind zu suchen.

Macht es für ein Kind einen Unterschied, ob es selbst vom Vater geschlagen wurde oder gesehen hat, wie die Mutter geschlagen wurde?

Nein, macht es nicht. Das liegt auch an unseren Spiegelneuronen.

Was ist das?

Die Spiegelneuronen versetzen uns in die Lage, zu empfinden, was der andere empfindet. Da wir soziale Wesen sind, ist die Fähigkeit zur Empathie sehr wichtig. Spiegelneuronen entwickeln sich sehr stark in den ersten Lebensjahren – insbesondere, wenn dies durch Bindungsarbeit und Feinfühligkeit der Mutter oder anderer Bezugsperson gefördert wird. In einer geschützten Atmosphäre, in der die Mutter dem Kind immer wieder Bestätigung geben kann, entsteht eine enge Bindung, und das Kind lernt die Umwelt kennen. Das heißt umgekehrt: die frühe Erfahrung von Gewalt kann später unser Verständnis für andere beeinträchtigen. Das heißt nicht unbedingt, dass man später auch Gewalt anwendet. Aber die Einfühlung in andere wird ein erschwerter Lernprozess.

Wie oft vermitteln Sie Kinder in Therapien?

Schwer zu sagen. Für eine Therapie muss man wieder stabil sein, das braucht Kraft und eine gewisse Bereitschaft. Wenn das Kind zum Beispiel immer wieder Dinge anspricht – Ärger in der Schule, Einschlafstörungen, Essstörungen oder Ähnliches – dann erkläre ich, wie eine Therapie helfen kann. Ich hatte zum Beispiel einen Fall, bei dem das Kind in der Schule wiederholt auffällig wurde. Die Lehrerin brüllte, aber beim Kind hatte das zur Folge, dass es gar nicht mehr denken konnte und in eine Art Schockstarre verfiel.

Weil das Brüllen an den Vater erinnerte?

Ja. Ich habe das Kind dann in eine Therapie begleitet und mit den Sozialarbeitern und Lehrern in der Schule gesprochen. Sie kannten die Geschichte des Kindes ja nicht, haben sich dann aber sensibilisiert verhalten.

Welche auffälligen Verhalten gibt es noch nach solchen Gewalterfahrungen?

Viele Kinder fallen zeitweilig zurück in jüngere Entwicklungsphasen: Sechsjährige verhalten sich wie Dreijährige, nässen zum Beispiel wieder ein.

Wie prägt eine solche Gewalterfahrung die Kinder?

Wenn es keinen Raum gibt, um die Gefühle auszudrücken, die diese Erfahrung ausgelöst hat, bleibt eine Kränkung und Angstsymptomatik. Eine Folge davon kann Aggressivität sein, nach innen und nach außen gerichtet, weil sich das Kind im Stich gelassen fühlt. Es gibt auch eine ganze Fülle von psychosomatischen Symptomen: Magenschmerzen, Übelkeit, Nervosität. Und wenn es ein Dauerzustand war, dass die Mutter erniedrigt wurde, kann bei den Kindern auch ein Rollenbild entstehen, in dem das als ganz normal empfunden wird und sie sich in Zukunft auch selbst danach richten – Mädchen wie Jungen.