Draußen im Stadtpark

In Cloppenburg leben überdurchschnittlich viele Russlanddeutsche, und vor allem die jugendlichen Aussiedler werden argwöhnisch beäugt. Denn sie schotten sich ab, heißt es. Aber wer fragt, bekommt Antworten und keine auf die Fresse

„Es ist bekloppt. Da waren wir die Deutschen, hier sind wir die Russen. Wir sind einfach Aussiedler“

von Benno Schirrmeister

Freundschaften schließen geht anders, aber das ist ja nicht die Aufgabe. Es geht darum, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, ein Gespräch zu führen – das allerdings ist schon vor seinem Beginn belastet. Im Cloppenburger Vorsommerdämmer formiert sich ein Halbkreis der Verlegenheit, zehn Jugendliche – oder sollte man sagen: Heranwachsende? Der Älteste geht jedenfalls garantiert auf die 30 zu, und der Treffpunkt ist einer der Parkplätze, die wie ein Gürtel rund um den Stadtpark angelegt sind.

Die werden Vorbehalte gegen Sie haben, hatte es geheißen. Die schotten sich ab. Und dann hat man ja auch noch mit den weichen Knien zu kämpfen: Cloppenburg, Stadtpark – das ist laut Der Spiegel ein brandheißer Brennpunkt. Zumal in der Dunkelheit. Dann sei der Cloppenburger Stadtpark „nicht nur für schreckhafte Cloppenburger ein Sperrbezirk“, hieß es in dem Magazin. Dort würden „in Russland geborene junge Deutsche Angst“ verbreiten. Und das da gegenüber, das alles sind in Russland geborene junge Deutsche. Oder in Kasachstan oder Sibirien. Grusel grusel.

Trotzdem gibt es Antworten und keinen in die Fresse. Sogar auf Fragen, die gar nicht gestellt waren. Auf Hochdeutsch. „Wir sind doch nicht kriminell“, lautet eine. Was für eine Ansage! Aber immerhin: Man darf sich auch Gedanken machen, ob nicht auch zum Abschotten immer schon zwei gehören. Und ob jede Angst begründet ist.

Angst ist ein Gefühl, und man sollte Gefühle nicht mit Füßen treten. In Cloppenburg hat Statistik starken Einfluss auf Gefühle. Die Kriminalitätsrate: Da runzelt man die Stirn. Die überdurchschnittliche Geburtenrate – das lässt Cloppenburger Herzen höher schlagen. Die unterdurchschnittliche Arbeitslosigkeit – da ist man zufrieden mit. Aber es kommt auch zu bangen Nachfragen. „Es wollen immer alle wissen: Und wie viele Russlanddeutsche?“, sagt Klaus Niemann.

Niemann ist der Pressesprecher der Stadt. Ein sehr auskunftsfreudiger sogar. Aber gerade diese begehrte Zahl mag er „nicht so gerne rausgeben“. Sie bereitet ihm Bauchschmerzen. Schließlich ist sie zweifelhaft: Es drängt sich zum Beispiel die Frage auf, wie lange denn ein Aussiedler ein Aussiedler ist. Ein Leben lang? Und wie ist das mit den Kindern: Wären das Aussiedlerkinder? Exterritoriale Russlanddeutsche?

Bei den Jungs und Mädchen im Stadtpark stellt sich die Frage so nicht: Sie sind mit den Eltern nach Deutschland gekommen. Angeblich, so gerüchtelt es, gegen den eigenen Willen. Mit übersteigerten Erwartungen. Und jetzt würden sie kein Deutsch lernen und die Eltern dafür verachten, umgesiedelt zu sein.

Das mit den übersteigerten Erwartungen ist gar nicht so falsch. Marina hat sich in der Stadtparkplatz-Jugendgruppe einen Ehrenplatz gesichert. Sie sitzt hinterm Lenkrad des blauen Wagens, lehnt mit beiden Armen im Fenster und bekennt, mit tiefer, tiefer Stimme: „Mir hat man mal gesagt, da gibt es Bananen“. Sie wird knallrot, Kicheranfall, und sie wird bedrängt, das ist nicht dein Ernst! Es ist doch ihr Ernst. Und außerdem: Es gibt ja Bananen. Auch wenn sie in Cloppenburg nicht wachsen.

Eugen, der breit gebaut, braun gebrannt und Träger eines Silberhalsbandes ist, sagt, auch hier falle „das Geld schließlich nicht vom Himmel“. Und um bei der Entscheidung, Omsk zu verlassen, mitreden zu können sei er jedenfalls „zu jung gewesen“. Zehn Jahre.

Da könnte man zwar auch schon etwas zu sagen haben, aber das Votum von Zehnjährigen führt auch in Deutschland nicht in allen Familien zu entsprechenden Entscheidungen. Die anderen nicken zu dem, was Eugen sagt. Was er erinnert von damals? „Man hat sich gefreut aufs Fliegen im Flugzeug“, sagt er. „Das war eine große Sache.“

In den Niederlanden weist die Statistik die Herkunftsländer aus, in Deutschland fragt man hingegen nach dem Pass. In Cloppenburg hat das zur Folge, dass manche von knapp 6.000 Russlanddeutschen sprechen, andere von fast 8.000. So oder so sind es jedenfalls: Viele. Denn Cloppenburg hatte am 31. 12. 2005 genau 31.914 Einwohner beiderlei Geschlechts. Vor Perestroijka gab es hingegen nur 22.795 Cloppenburger: Rekordverdächtige 40 Prozent Wachstum binnen 17 Jahren. Und mittlerweile ist nicht einmal mehr die seit 1613 verbürgte katholische Mehrheit noch ganz so sicher! Dramatische Veränderungen.

Aus den Zahlen darf man schließen, dass sich Cloppenburg im Umbruch befindet. Als erstes spüren so etwas die Schulen. Die Paul-Gerhardt Schule ist mittlerweile staatlich anerkannte Ganztagsgrundschule, auch wenn es, wie Rektorin Martina Reichel-Hoffmann einräumt, „dafür momentan noch gar kein Geld gibt“. Schritt für Schritt habe man sich ans Ganztagsangebot herangetastet, mit eigenen Mitteln, mit freiwilligem Einsatz, „weil uns klar war: Das ist pädagogisch für unsere Schüler genau das Richtige“. Ja, es gibt auch Probleme „mit einigen Familien“, so Reichel-Hoffmann. Traditionell kommen die meisten Aussiedlerkinder an die evangelische Grundschule. Das hat zwei Gründe: Einmal sind die meisten von ihnen Lutheraner. Andererseits „sind hier in den 1990er-Jahren Kinder aufgenommen worden, denen in anderen Schulen die Tür verschlossen war“. Mittlerweile ist die Gerhardt-Schule die größte Grundschule der Stadt.

Manche Folgen des Umbruchs sind noch direkter sichtbar. Die Cloppenburger Box-Club-Dichte beispielsweise ist sehr hoch. Oder bei den Geschäften: Zum Beispiel gibt’s Swetlana, die Hochzeitsmoden-Boutique mitten in der City. Die ist benannt nach Besitzerin Swetlana Scetnikov, die bis 1990 in Omsk gelebt hat. Brautmoden Swetlana führt jedenfalls nicht nur weiße Roben, sondern auch mint- und lachsfarbene Kleider, was man für ungewöhnlich hält. Aber Olga Gense, die aushilft im Geschäft, weist Mode-Laien-Vermutungen schroff zurück: „Das ist kein russischer Laden“, sagt die junge Frau, die in Bremen BWL studiert hat. „Hier kaufen auch alle ein“. Naja – aber sind nicht diese Brautkrönchen…? Fräulein Gense hält auch diese nicht für etwas Besonderes, aber das geht dann doch gegen den Stolz der Scetnikova: „Ich habe schönere Diademe als Konkurrenz!“

Man könnte auch den Lebensmitteleinzelhandel erwähnen, vier neue Supermärkte insgesamt, einer davon heißt Planeta, der direkt gegenüber Globo. In Erinnerung bleibt ein Turm aus Viertelzentnersäcken mit Zwiebeln, in denen ein, zwei überreife Exemplare schlummern müssen, was schnell mal vorkommt, aber trotzdem wuchtig riecht. Dafür wird auf Gedudel verzichtet, das Sonnenblumenkern-Sortiment ist sensationell und in der Kühltruhe stapeln sich Riesenfische im Stück, Pelmeni mit Schwein, Pelmeni mit Rind und Pelmeni mit Rind und Schwein, und Manty, die aussehen wie große Pelmeni: Die Einheimischen lockt das Angebot offenbar kaum. Aber es besteht.

Unsichtbar hingegen ist das, was die Statistik an qualifizierten Zahlen hergibt: Bei der Geburtenziffer oder der Arbeitslosenzahl fehlen Untersuchungen, wie die Superwerte mit den Zuzüglern in Verbindung stehen. Man räumt ein, dass es Zusammenhänge gibt. Aber man wehrt sich auch nicht gerade gegen das schmeichelhafte Bild vom zeugungsfreudigen und tüchtigen Münsterländer samt seiner papsttreuen Vielgebärerin. Anders ist das mit der Kriminalitätsrate. Die hatte Cloppenburg früher nie, harte Drogen spielen in ihr die Hauptrolle, und es gibt einen Zusammenhang mit der Zuwanderung, sagen Kriminologen. Das will man doch auch sehen. Was machen denn all’ diese Jugendlichen abends im Stadtpark?

„Die Deutschen“, sagt Eugen, und wird korrigiert: „Ey, du meinst die Einheimischen“. Okay, noch einmal: „Die Einheimischen hocken halt immer drinnen.“ Und das fände man schließlich auch nicht alles gut, was die machen. „Die liegen in ihren Zimmern und rauchen und trinken Bier und so.“ Bei ihnen sei das strenger, also hocken sie draußen rum und rauchen und trinken Bier. Klingt plausibel. „Ist doch auch besser draußen.“ Tagsüber wird ohnehin gearbeitet, einige machen eine Lehre, andere sind damit fertig, ein paar sitzen im Abi-Stress, also bleibt keine Puste um unter der Woche groß was zu unternehmen. „Und was willste hier auch machen.“ Also Stadtparkparkplatz. Oder Sport: „In meinem Fußballverein“, Eugen ist einfach der Wortführer, „sind teilweise nur noch drei Deutsche“. Was denn jetzt: Und ihr? Seid ihr Russen?

In einigem Abstand schieben zwei Jugendliche mit einem Fahrrad vorbei. Eben waren sie noch auf dieser Straßenseite. Jetzt haben sie gewechselt. Es kann natürlich sein, dass sie gehofft hatten, auf dem Gehsteig gegenüber ein letztes bisschen der Frühlingssonne zu erhaschen. Aber zu deren ärmlichen Strahlen steht der Bogen in einem auffällig ungünstigen Verhältnis.

„Es ist bekloppt“, fährt Alexander auf, der bis jetzt geschwiegen hat. „Da waren wir die Deutschen, hier sind wir die Russen. Wir sind einfach Aussiedler.“ Auch eine Identität. Kann man damit leben? „Na wir leben doch.“ Verzweifelt klingt das nicht. Es klingt nicht einmal trotzig. Nüchtern wäre vielleicht das passende Wort.