Still, klug, aufmerksam

MUT Mit dem Drama „Grenzgang“ zeigt die ARD heute (20.15 Uhr) eine überaus gelungene Verfilmung eines Romans

VON SVEN SAKOWITZ

Euphorische Kritiken, Top-Verkaufszahlen und eine Platzierung auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises: Stephan Thomes Debütroman „Grenzgang“ war 2009 eine mittelschwere literarische Sensation. Eine Verfilmung drängte sich aber nicht auf: Zu viele Zeitsprünge, zu viele innere Konflikte der Protagonisten; das schien kaum fernsehtauglich zu sein. NDR, WDR und teamWorx haben sich dennoch an den Stoff gewagt. Und „Grenzgang“ ist ein faszinierender Fernsehfilm geworden.

Erzählt wird die Geschichte von Kerstin Werner (Claudia Michelsen) und Thomas Weidmann (Lars Eidinger). Beide sind über 40 Jahre alt und im kleinen Bergenstadt gestrandet. Er strebte eine akademische Karriere in Berlin an, scheiterte und kehrte für einen Job als Lehrer in seinen Heimatort zurück. Sie lernte in Bergenstadt einst ihren Mann fürs Leben kennen. Der hat jetzt eine Jüngere, Kerstin kümmert sich allein um ihre demenzkranke Mutter sowie ihren Sohn Daniel (Sandro Lohmann), dessen Klassenlehrer Thomas Weidmann ist.

Als Daniel einen Mitschüler mobbt, sucht Thomas das Gespräch mit Kerstin. Schon einmal sind sie sich flüchtig begegnet. Das war beim letzten Grenzgang – einem Volksfest, das alle sieben Jahre gefeiert wird und jetzt erneut ansteht. Diesmal kommen sich Kerstin und Thomas vorsichtig näher. Sie fühlen sich voneinander angezogen, aber die Lasten zahlreicher Enttäuschungen bremsen sie. Sie haben Sehnsucht nach Neuem und gleichzeitig Angst vor Veränderung. Beide können sich nicht euphorisch verlieben, sondern zweifeln und zaudern und fürchten sich vor Verletzungen.

„Bei so einem erfolgreichen Roman muss man bei der Adaption erst mal ein bisschen die Ehrfurcht verlieren“, sagt Drehbuchautorin Hannah Hollinger, die sich vor allem durch ihre Drehbücher für Matti-Geschonneck-Filme einen Namen gemacht hat. Sie kürzte die im Roman über 21 Jahre erzählte Geschichte auf einen Zeitraum von sieben Jahren, kümmerte sich nur am Rande um die Grenzgang-Tradition und konzentrierte sich auf die beiden Hauptfiguren. Und sie entschied sich für eine mutige Erzählform: „Der Film ist sehr flächig erzählt“, sagt sie. „Ich habe auf den klassischen Spannungsaufbau und das dramatische Hochziehen einzelner Situationen verzichtet. Mehr noch: Es gibt eigentlich gar keine große Handlung, die Spannung liegt innerhalb der Figuren und ihren kleinen Wendungen, die mit ihrem kleinen Leben zu tun haben.“

Zugleich ist Hollinger mit Dialogen sparsam umgegangen, es obliegt den wunderbaren Darstellern Eidinger und Michelsen, die Minibewegungen ihrer Figuren erkenn- und nachvollziehbar zu machen – ein Lächeln am Telefon, ein scheuer Blick. „Grenzgang“ bildet das mittelmäßige Leben ab, ohne selbst im Mittelmaß zu versinken.

Es ist ein stiller und kluger Film, der aufmerksames Zuschauen erfordert. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem außergewöhnlichen Blick auf das Liebes- und Lebensleid der Generation der über 40-Jährigen belohnt.