Orgie der Chancenverschwendung

DORTMUND Trotz eines 3:1-Siegs gegen Neapel kommen leichte Zweifel an der Reife der Borussen auf

■ Die Aussichten: Borussia Dortmund wahrt mit dem Sieg gegen den SSC Neapel die Chance, ins Achtelfinale der Champions League einzuziehen. Dies erreicht der Erst- und Zweitplatzierte in der Gruppe. Wenn Dortmund im letzten Spiel der Gruppenphase in zwei Wochen gegen Marseille antritt, müssen sie idealerweise gewinnen. Doch wenn auch Neapel gegen Arsenal siegt, könnte es zu einer kuriosen Situation kommen: Alle drei Teams haben 12 Punkte. Die Ergebnisse der Marseille-Spiele würden dann nicht mehr herangezogen, weil ja alle drei die Franzosen besiegt haben. Entscheidend wäre dann die Tordifferenz. Zum ersten Mal in der 21-jährigen Geschichte der Champions League könnte ein Klub mit vier Siegen und zwölf Punkten aus sechs Spielen ausscheiden. Bester ausgeschiedener Dritter war bisher Werder Bremen mit zehn Zählern. Ein Unentschieden zwischen dem BVB und Marseille sichert das Weiterkommen nur, wenn Neapel verliert. Sollten beide Mannschaften mit je einem Punkt aus den Spielen gehen, müsste der direkte Vergleich entscheiden.

AUS DORTMUND DANIEL THEWELEIT

Schon vor längerer Zeit ist die Marketingabteilung von Borussia Dortmund auf die Idee gekommen, das besondere BVB-Gefühl nicht nur als imposantes Stadionerlebnis, sondern auch in Form einer psychotropen Substanz zu vertreiben. Für 1,69 Euro gibt es im Fanshop eine Dose „schwarz-gelbes Adrenalin“. Aber natürlich ist dieser Energydrink nicht mehr als ein billiger Ersatz des echten BVB-Stoffes, den die Mannschaft von Jürgen Klopp ihrem Publikum am Dienstagabend mal wieder in besonders reiner Form injizierte. „Es war ein Spiel zum Genießen, wenn auch nicht zum Zurücklehnen und Genießen“, umschrieb Jürgen Klopp das aufregende 3:1 gegen den SSC Neapel, mit dem eine kleine Serie von drei Niederlagen beendet wurde.

Klopp liebt das Spektakel, und sein Spaß wird auch nicht eingetrübt, wenn sich die Zuschauer immer wieder entsetzt die Haare raufen müssen. Roman Weidenfeller befand sich irgendwann am Rande des Wahnsinns: „So was ist enorm schwer für den Torwart, man möchte am liebsten nach vorne rennen und die Dinger selber reinmachen“, sagte er, nachdem die Kollegen aus der Offensivabteilung sechs, sieben großartige Gelegenheiten vergeudet hatten. Das Publikum bekam den BVB in einer Ursprünglichkeit serviert, von der viele Beobachter dachten, sie sei ein Phänomen der Vergangenheit.

In der Vorsaison war die Mannschaft ja unter anderem wegen ihrer bestechenden Effizienz ins Champions-League-Finale eingezogen, nun sagte Sebastian Kehl: „Es ist schon sehr ärgerlich, dass wir so viele Chancen haben liegen lassen, ich kann mir das nicht erklären.“ Marco Reus, Robert Lewandowski, Jakub Blaszczykowski, Henrikh Mkhitaryan und Pierre-Emerick Aubameyeang scheiterten immer und immer wieder am großartigen Pepe Reina im Tor des SSC Neapel – und an den eigenen Nerven. Wie schon beim 0:3 gegen den FC Bayern, aber im Gegensatz zum Topduell vom Samstag hatte die Dortmunder Verschwendungssucht an diesem Abend einen unwiderstehlichen Reiz.

Der leichtfüßige Mkhitaryan war überragend, Klopp bezeichnete den Armenier später als „einen Unterschiedmacher“, aber das ganze Kollektiv spielte jenen energiegeladenen Tempofußball, den Klopp von seiner Mannschaft sehen will. Eine Vielzahl vergebener Chancen wird da als Kollateralschaden in Kauf genommen. „Wir müssen uns vor dem Tor einfach wieder mehr konzentrieren“, forderte Weidenfeller zwar, aber in Wahrheit hat der BVB sowohl in seiner Champions-League-Gruppe als auch in der Bundesliga die meisten Tore aller Teams erzielt. Gegen Neapel trafen Reus, Blaszczykowski und Aubameyang.

Das Spiel wogte hin und her, und war nach dem Anschlusstor von Lorenzo Insigne (71.) bis zum Schluss spannend. „Ich kann meinen Spielern nur gratulieren, weil sie gegen eine große Mannschaft ein starkes Spiel gezeigt haben“, sagte Rafael Benitez, der Trainer der Italiener. Er hatte großes Unterhaltungskino gesehen, und dennoch bleibt das Gefühl, dass dieser BVB im Moment nicht mit der Reife des Vorjahres agiert. Einen kühl kalkulierten Ergebnisfußball werden die Dortmunder wohl nie spielen, aber ein derartig flatterhafter Umgang mit eigenen Chancen wird oft zum ernsten Problem. Das war so im ersten Champions-League-Jahr unter Klopp, als nach der Vorrunde Schluss war, und das hat sich in dieser Bundesligasaison auch schon angedeutet: gegen die Bayern, vor allem aber beim Spiel im vorigen Monat in Mönchengladbach, das trotz sagenhafter Überlegenheit mit 0:2 verloren ging. „Einen Mangel an Effizienz aufzuarbeiten, ist ziemlich schwierig, wenn man immer nur einen, zwei oder drei Trainingstage hat“, erwiderte Kehl auf die Frage nach möglichen Gegenmaßnahmen.

Ob die Dortmunder trotz ihrer Schwächen erneut in der Phalanx der europäischen Topklubs mithalten können, ist eine der spannendsten Fragen dieser Fußballsaison. „Wir wollen unseren Champions-League-Traum weiter träumen“, sagte Klopp. Um ganz sicherzugehen, müssen sie aber ihr finales Gruppenspiel in Marseille gewinnen. Beste Voraussetzungen für eine neue Dosis hochkonzentrierter BVB-Emotion.