Landschaft und Konfetti

ÜBERBLICK Mutige Experimente, radikale Positionen: Das Festival Nordwind bringt vielfältige Kunst aus den nordischen und baltischen Ländern auf die Kampnagel-Bühne

VON ROBERT MATTHIES

Dünn besiedelt, dieses Finnland: Knapp fünfeinhalb Millionen Menschen teilen sich 340.000 Quadratkilometer. Ungewöhnlich dicht besiedelt ist aber die dortige Kulturlandschaft: Vier Millionen Karten kaufen die Finnen jährlich, um Theater, Oper oder Tanz zu erleben, fünfzehn Theater bietet die Hauptstadt Helsinki, und selbst in einer verhältnismäßig kleinen Stadt wie Turku sind es immer noch fünf Bühnen.

Und in den Ländern ringsum sieht es ähnlich aus: Eine erstaunlich vitale und vielfältige Kunstszene hat sich in den letzten 20 Jahren am nördlichen Rand Europas entwickelt. Vor allem in der Off-Kultur ist eine unverwechselbare Ästhetik entstanden, geprägt von der Auseinandersetzung mit der oft schroffen Natur, den weiten Entfernungen, der Dunkelheit und Kälte.

Ein Stil, der weithin isoliert vom kulturellen Klima des europäischen Festlands und seinen Kunstdiskursen mutige Experimente und radikale Positionen nicht scheut. Darin liegt trotz aller kulturellen, sozialen und politischen Eigenheiten die Gemeinsamkeit der zeitgenössischen skandinavischen und baltischen Kunst zwischen Island und Litauen.

Dass diese Kunst zunehmend auch im restlichen Europa wahrgenommen wird, ist dem Engagement Ricarda Ciontos’ zu verdanken: Seit 2006 widmet sich das von ihr initiierte Festival „Nordwind“ in Berlin den spannendsten Neuentdeckungen der Nordkunst.

Mit großem Erfolg – heute ist das zweijährliche Festival die wichtigste Plattform für nordische Künste in Europa und engagiert sich auch als Initiator, Koproduzent und Förderer. Erstmals wurde ein Teil des Programms vor zwei Jahren außerhalb Berlins präsentiert, in Hamburg, auf Kampnagel. Nun stößt das Dresdner Festspielhaus Hellerau dazu, in dem das Festival vergangene Woche eröffnet wurde.

Insgesamt präsentiert „Nordwind“ dieses Jahr rund 80 Arbeiten aus Theater und Tanz, Performance, Musik und bildender Kunst, darunter drei Uraufführungen und sechs Deutschlandpremieren. In Hamburg ist daraus nur ein Ausschnitt zu sehen, eine Mischung aus Neuentdeckungen und aktuellen Produktionen etablierter Künstler.

Den Auftakt macht am Donnerstagabend die Uraufführung der theatralen Performance „Change of Hope“ von dem lettischen Nachwuchsregisseur Valters Silis: Sie widmet sich der lettischen Geschichte der 1990er-Jahre, als das Land nach der Unabhängigkeit mit politischem Chaos und den Schwierigkeiten des Übergangs in die Marktwirtschaft zu kämpfen hatte. Eine Situation, in der die Schauspieler erwachsen wurden. Und so entwirft Silis ein Kaleidoskop persönlicher Erinnerungen.

Mit Erna Ómarsdóttir ist in der kommenden Woche eine der erfolgreichsten Künstlerinnen Islands mit ihrer aktuellen Arbeit „Transaquania – into thin air“ zu Gast. Bekannt wurde die Tänzerin und Choreografin mit eigenwilligen Performances: blutrünstige Bilderreigen voller Zombies, Hexen, Wunderkammern und Todesmaschinen. Für „Transaquania“ hat sie mit ihrem belgischen Kollegen Damien Jalet, der Künstlerin Gabríela Frišriksdóttir sowie den Musikern Valdimar Jóhannsson und Ben Frost zusammengearbeitet.

Ausgangspunkt der Choreografie sind die Themen „Schwerelosigkeit“ und „Sauerstoff“: In gleichermaßen archaisch wie futuristisch anmutenden Kostümen erkunden die Tanzenden das Zusammenspiel von Chemie und Körper in den evolutionären Prozessen der mystischen Blauen Lagune Reykjaviks und erzählen als lebendige Skulpturen die Geschichte der Evolution.

Ein weiterer Höhepunkt: In ihrem „Artificial Nature Project“ kreiert die dänische Choreografin Mette Invartsen mit jeder Menge Konfetti und anderen Materialien künstliche Landschaften, in denen die acht Tänzer nurmehr als Motor für eine Bewegung künstlicher Naturgewalten fungieren.

■ Do, 5. 12., bis Fr, 13. 12., Kampnagel www.nordwind-festival.de