Gagarin und die Baumwollspinnerei

SCHÖNER OSTEN Martin Schmidt und Kurt Schwarzer dokumentierten den Alltag in der DDR. Die Fotos waren gestellt und verraten dennoch so einiges

Die Bilder, die von der DDR geblieben sind, sind blass und grau, schwarz und weiß. Da überrascht ein Fotoband in Farbe umso mehr. Ja, im Arbeiter- und Bauernstaat gab es neben dem berühmtesten Farbfilm – den Nina Hagen 1974 in ihrem größten Hit in der DDR besungen hat, „Du hast den Farbfilm vergessen“ – ganz offizielle Farbfotografien, bereits seit den 60er Jahren.

Mehr als 300 Aufnahmen aus dem Bestand des Deutschen Historischen Museums wurden nun in dem Fotoband „Farbe für die Republik“ veröffentlicht. In den Reportagen aus dem Arbeits- und Alltagsleben sind Männer und Frauen in der sozialistischen Produktion zu sehen: in der Baumwollspinnerei, im Chemielabor, im Stahlwerk, im Lebensmittelwerk, auf dem Feld, bei der Herstellung von Weihnachtsbaumkugeln, auf Demonstrationen, beim Besuch des Betriebsarztes.

Schick angezogene Ehepaare speisen im Interhotel-Restaurant, Kinder spielen unter wehenden Fahnen vor einem Ernst-Thälmann-Denkmal, Werktätige angeln im Urlaub im Betriebsferienheim, Volkspolizisten begleiten Kinder beim Überqueren der Straße, üppige Speisen sind auf opulenten Tafeln arrangiert, junge Frauen in flotten Bikinis posieren am Ostseestrand. Das Leben in der DDR, das suggerieren die Fotos, war erfüllend, glücklich, sorglos.

Dabei sind die Aufnahmen inszeniert und hatten nur einen Auftrag zu erfüllen: Sie sollten nicht nur ein farbiges, sondern ein rosarotes Bild der DDR zeigen. Fehlende Rohstoffe, Probleme bei der Erfüllung der Fünfjahrpläne, die Unzufriedenheit der Menschen mit der Versorgungslage, all das wurde nicht abgebildet.

Dass es ausschließlich um die „Errungenschaften des Sozialismus“ ging, lag an den Auftraggebern. Das waren Betriebe, Messegesellschaften, die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, die Pionierorganisation und andere Massenorganisationen, die die DDR so zeigen wollten, wie sie sich das kleine Land erträumten.

1992 und 2002 erwarb das Deutsche Historische Museum die Archive der Fotografen Martin Schmidt, Jahrgang 1925, Mitglied der Partei und für die Staatssicherheit als inoffizieller Mitarbeiter tätig, und Kurt Schwarzer, 1927 geboren und 2012 gestorben, der sich als unpolitischer Handwerker verstand und kein Parteimitglied war.

Auch wenn ihre Fotos einen Parteiauftrag zu erfüllen hatten, sind sie doch sehr aufschlussreiche Dokumente der Zeitgeschichte. Denn auch oder gerade die gestellten Bilder erzählen viel. So wie die Aufnahme der Brigade „Juri Gagarin“ einer Baumwollspinnerei von 1987. Zu sehen sind acht Frauen und ein Mann, die Frauen, darunter zwei Mosambikanerinnen, in Nylonschürzen, der Mann im karierten Hemd, die wie Hühner auf der Stange eng beieinander unter einer Wandzeitung über Juri Gagarin sitzen, „Gute Vorbereitung ist das A und O für hohe Effektivität“. Ihre Körperhaltungen und Gesichtsausdrücke vermitteln Verunsicherung und eine gewisse Belustigung statt Effektivität.

Im Vorwort nennt Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, die Fotos „faszinierend“. Er spricht aber auch von einer „Reise in die Inszenierung der Vision einer Gesellschaft, die so nie wirklich existierte“.

Nina Hagen beklagte in ihrem Hit den vergessenen Farbfilm im Ostseeurlaub aus einem ganz bestimmten Grund: „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war.“ BARBARA BOLLWAHN

Martin Schmidt, Kurt Schwarzer: „Farbe für die Republik. Fotoreportagen aus dem Alltagsleben der DDR.“ Herausgegeben vom Deutschen Historischen Museum. Quadriga Verlag, Berlin 2013, 304 Seiten, 29,99 Euro