Shakespeare verspeisen

Verschmelzung, Aneignung, Einverleibung: Die brasilianische Kultur ist voll von Strategien, Identität und Differenz zusammenzudenken. Das HAU zeigt deshalb 10 Tage lang Theater aus Brasilien

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Brasilien, warum Brasilien? Plötzlich scheinen sich alle auf das Land und seine Kultur zu stürzen, Kunstvereine, Programmkinos, Theater, das Haus der Kulturen der Welt. Liegt das allein am „Copa da Cultura“, dem Programm, mit dem das brasilianische Kulturministerium sein Land dieses Jahr in Deutschland vorstellen möchte?

„Nein“, sagt Kirsten Hehmeyer, Pressesprecherin am HAU und mit Ricardo Muniz Fernandes und Matthias Pees, Dramaturgen und Theaterproduzenten aus São Paulo, Kuratorin von „Brasil em Cena“, einer Theaterreihe aus Brasilien für 10 Tage am HAU. „Man glaubt es kaum, aber Johannes Odenthal am HdKW und wir hatten erst, ohne von einander zu wissen und bevor mit dem „Copa da Cultura“ Mittel in Aussicht standen, ein brasilianisches Programm geplant. Jetzt haben wir das koordiniert, sodass man dort und bei uns alles sehen kann.“

Kirsten Hehmeyer hat früher in Brasilien gelebt und lag Matthias Lilienthal (Intendant am HAU) schon lange mit brasilianischen Theater in den Ohren. „Wenn man heute in Brasilien eine Tageszeitung aufschlägt, wird vier-, fünfmal so viel Kultur angeboten wie noch vor zehn, fünfzehn Jahren“, erzählt sie. Seit eine linke Regierung dran ist, stellt sich die Politik emphatisch hinter die Kultur. Obwohl es noch immer keine festen Theater gibt, obwohl nur wenig staatliches Geld zur Verfügung steht, ist eine freie Szene entstanden. Unterstützt wird sie teilweise von Unternehmen, die bis zu 4 Prozent ihrer Steuerlast in Kultur investieren können. „Keine ideale Konstruktion, weil so Firmen entscheiden, was gefördert wird“, sagt Matthias Pees, aber dennoch ein Anfang.

Matthias Pees wohnt seit drei Jahren in São Paulo und sieht das enorm gewachsene Interesse von Künstlern aus Deutschland an Brasilien. „Brasilien hat einen magnetischen Effekt. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass die brutal ungleichen Lebensverhältnisse dort auch als Zukunftsperspektive für Europa drohen. Zum anderen ist interessant, wie die Menschen in Brasilien eine gewisse Taktik entwickelt haben, mit diesen Verhältnissen umzugehen. Von so einer Taktik träumt man hier nur: dass die Leute eine eigene positive Energie und Kraft entwickeln angesichts der drohenden Zerwürfnisse in den sozialen Systemen.“

Es ist die lange Geschichte der Gegensätze und des Austauschs zwischen kulturellen Einflüssen, die einmal afrikanisch, europäisch und amerikanisch gewesen sein mögen, in der Begegnung aber zur brasilianischen Identität geworden sind, von der sich auch die Hoffnungen der Gegenwart nähren. Die Kulturgeschichte Brasiliens hat wiederholt theoretische Konzepte hervorgebracht, die einen Ausweg aus dem Dilemma von Kolonialismus und Imperialismus zeigten: die Idee der Anthropophagie, der kulturellen Einverleibung, in den Zwanzigerjahren oder den Tropicalismus in den Sechzigerjahren. Beide Bewegungen konnten sich nicht bruchlos entwickeln, die jahrzehntelange Diktatur verhinderte das.

Umso stärker ist die Anknüpfung heute: auf das „Anthropophagisieren“, das kannibalistische Verspeisen klassischer Texte, beziehen sich gleich drei Produktionen, die Performance „Canibal“, das Stück „Arena conta Danton“ und „Ensaio. Hamlet (Probe Hamlet)“ aus Rio des Janeiro, mit dem das Festival heute eröffnet. „Ensaio Hamlet“ geht von der Fiktion aus, dass sich sieben Schauspieler ihr „Versagen vor dem Stück der Stücke“ eingestehen und genau damit eine sehr eigene Fassung entwickeln. Shakespeare zu verspeisen heißt dabei gleichzeitig, ihn zu verehren, denn nur der stärkste Feind erfuhr die rituelle Einverleibung.

In der Zeit der Militärdiktatur, als viele oppositionelle Musiker, zu denen auch der heutige Kulturminister Gilberto Gil gehört, für ihre Haltung mit Gefängnis oder Exil bestraft wurden, blieben auch Theaterstücke in der Schublade liegen. Dazu gehörte „O Assalto“ („Der Überfall“), 1969 von Zé Vicente geschrieben, eine merkwürdige Rollentauschgeschichte zwischen einem kriminellen Manager und einem Putzmann und ein Krimi, der Kritik am Machtmissbrauch grotesk ummantelt. Die Aufführung des Stücks durch das Teatro Oficina aus São Paulo ist Teil der noch sehr vorsichtigen Beschäftigung mit der Vergangenheit. Sie bleibt kompliziert und tabuisiert: Schon deshalb, vermutet Peetz, weil auch die jetzige Regierung mit Kriminalität und Korruption in den eigenen Reihen nicht fertig wird.

Im Herzen der aktuellen Konflikte ist auch „Futebol“ angesiedelt, eine Performance der Polit-Aktivisten „Frente 3 de fevereiro“, die sich nach einem der vielen Tage nennen, an denen die Polizei „irrtümlich“ einen Schwarzen erschoss. Rassismus gilt in Brasilien als Schwerstverbrechen: In jedem Aufzug, erzählt Pees, hängen Schilder, die Diskriminierung Andersfarbiger unter Strafe stellen. Und dennoch sieht sich jeder, der nicht weiß ist, aufgrund seiner Hautfarbe als politisch nicht gleich berechtigt und definiert sich als Schwarzer. „Letzten Monat hing aus einem der besetzten Hochhäuser im Zentrum von São Paulo, vertikalen Favelas, ein gigantisches Transparent: ‚Zumbi somos nos‘ (‚Wir sind Zumbi‘) von ‚Frente 3 de fevereiro‘ “, erzählt Pees. „Das war eine durchaus ambivalente Aussage, denn Zumbi ist nicht nur der Name des Anführers eines legendären Sklavenaufstandes im 19. Jahrhundert, sondern heißt auch Zombie, Untoter, Wiedergänger.“ Der Ort war nicht zufällig gewählt, die Gruppe sucht sich gut sichtbare Auftritte, unter anderem in Fußballstadien. Denn Fußball ist nicht nur eines der Felder, auf denen der Kampf um Anerkennung der Schwarzen am erfolgreichsten ausgetragen wurde, sondern zugleich eine der größte Projektionsflächen, um mit Bilder des Erfolgs andere Realitäten zu überblenden.

Alle Veranstaltungen des Festivals „Brasil em Cena“ werden in portugiesischer Sprache mit Übertitelungen laufen. Das ist zum Beispiel wichtig im Stück „Agreste“ des jungen Autors Newton Moreno, das in einer kargen und unbehauenen Sprache sehr berührend und vollkommen unironisch von einer tiefen Liebe erzählt und in der Landschaft angesiedelt ist, die dem Stück den Namen gab. Andere erzählen vom berüchtigten Fernsehkonsum und den Telenovelas („Tanque“,) oder von Ritualen und Straßenfesten im Land der Zuckerrohrschneider (Cavalo Marinho Revistado). So nimmt das Festival sehr unterschiedliche Kulturlandschaften und Milieus in den Blick.

„Brasil em Cena“, 30. Mai bis 7. Juni am HAU, heute Eröffnung mit „Ensaio. Hamlet“ und Party