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: HELMUT HÖGE über verspätete Anschlüsse

„Da kommen die halbnackten Bauarbeiter vom Lehrter Hauptbahnhof!“ (Eine Senatsangestellte über Bahnchef Mehdorn mit Gefolge)

Am Kottbusser Tor hat sich eine türkische Mütterinitiative gebildet – zur Vertreibung der dortigen Fixerscene. Dem WDR-Morgenradio gegenüber meinte eine Sprecherin: „Sollen die doch hinters Kanzleramt gehen!“ Aus dem Anwohnerbeirat des Quartiers-Managements wurde sie dafür kritisiert. „Die sehen die Probleme am Kotti zu eng.“ Dadurch, dass sie diese nur aus ihrem Umfeld weghaben wollen, verdoppeln sie sie anderswo. Am Ende heißt es: „Wir Kinder vom Lehrter Bahnhof.“

Ich fand das witzig. Aber dann sah ich, dass der Garten hinterm neuen Kanzleramt tatsächlich an den Vorplatz des neuen Hauptbahnhofs grenzt. Und dort vor Ort, im „größten und modernsten Bahnhof der Welt“ (der Welt!), stieß ich dann auch schon auf die ersten Fixer vom Bahnhof Zoo. Sie waren – wie ich – nur mal kurz vorbeigekommen, um den neuen Weltbahnhof auf seine Tauglichkeit zu testen.

Aber während ich durchaus weltoffen umherging, schien die Bahnhof-Zoo-Szene sich wie heimatvertrieben zu fühlen. Dieser Eindruck wurde noch von meiner Begleiterin – aus Wilmersdorf – verstärkt: „Die wickeln langsam den ganzen Westen ab, den Kudamm, den Bahnhof Zoo …“, meinte sie traurig – angesichts der staunenden Menschenmassen unter dem riesigen Glasdach.

Erst als ich ihr sagte, dass der Architekt gegen Bahnchef Hartmut Mehdorn Klage führe, weil der seinen noch grandioseren Hauptbahnhofs-Kuppelplan eigenmächtig verändert habe, fühlte sie sich etwas kommoder – und erstand zwei Flaschen Chianti im Sonderangebot. Aber als ein Mann neben ihr plötzlich lautlos zusammenbrach – und der Notarztwagen ihn in die nahe Unfallstation der Charité brachte, war der Wilmersdorferin das Lehrter Weltambiente wieder vergällt.

Nachher kam es aber noch dicker – im Kino Babylon, wo wir uns die letzte Staffel des polnischen Filmfests ankuckten, die ausschließlich aus Bahnhofsfilmen bestand. Gleich der erste befasste sich mit den Kindern vom Leningrader Bahnhof. 18.000 solcher zumeist drogensüchtiger junger Obdachloser soll es allein in Moskau geben. Und man weiß nicht, ob es mehr oder weniger werden, erzählte hernach die Regisseurin, die mit einer Hilfsorganisation in dem Bahnhof tätig ist.

Der nächste Film thematisierte das kurze Leben eines sympathischen polnischen Studenten, der sich zügig – zuletzt mit einigen Leidensgenossen auf dem Bahnhof – zu Tode trank. Schließlich, beim dritten Film, fanden wir uns in einem vollen, von der polnischen Kirche organisierten Zug mit Behinderten wieder, deren Verwandte sich Heilung für sie durch eine Pilgerfahrt nach Lourdes erhofften.

Zuletzt ging es in einem Film des Festivalorganisators Kornel Miglus um vier Orte – mit stillgelegten Bahnhöfen: Dort hatte er eine deutsch-polnische Jugendgruppe um sich gescharrt, die als wissbegierige Enkel ihre Großmütter, die zu beiden Seiten der Oder leben und einst dorthin vertrieben worden waren, interviewten.

Als wir nachts wieder zu Hause ankamen, waren wir also voll eingestimmt auf das, was dann bis zum Einschlafen lief – auf NDR: „Die lange Nacht der Eisenbahnen“, ein Zusammenschnitt der interessantesten Strecken der Welt.

Zwischendrin saß plötzlich Wladimir Kaminer im TV-Studio und erzählte: „Besonders gerne bauen die Deutschen an der Eisenbahn. Schon als Kleinkinder fangen sie damit an, Spielzeugeisenbahn-Environments zu basteln, später als Erwachsene können sie nicht mehr damit aufhören. Auch in Russland ist die Eisenbahn zum großen Teil von deutschen Kriegsgefangenen gebaut worden. Später haben die Deutschen an der längsten Eisenbahnlinie der Welt, der so genannten Baikal-Amur-Magistrale, kräftig mitgewirkt. Ich habe in Berlin viele Leute kennen gelernt, die begeistert von ihrem Arbeitseinsatz bei der BAM erzählten.“