ADRIENNE WOLTERSDORF über OVERSEAS
: Im Land der Fahrradfahrerfresser

Wenn es etwas gibt, für das es in den USA kein Verständnis gibt, dann sind das unmotorisierte Verkehrsteilnehmer

Amerikaner sind reizende Menschen. Sie grüßen freundlich, halten geduldig an Zebrastreifen, drängeln nicht an Warteschlangen vorbei und beherrschen die Kunst des freundlichen Smalltalks. Wir haben uns doch alle was zu sagen, so fühlt man sich nach einer Weile des Lebens in Amerika. Sorry, es muss heißen: Vereinigte Staaten von Amerika, wer will denn gleich die Mexikaner und die Chilenen eingemeinden? Die Amerikaner, die US-Amerikaner schon gar nicht. Die einzige Form der Existenz, die von diesen überaus netten Menschen religionsübergreifend auf gar keinen Fall geduldet wird, sind Fahrradfahrer.

Dabei ist es ausnahmsweise einmal egal, ob es sich um Republikaner, Texaner oder Demokraten handelt, alle hegen eine tiefe Verachtung für die Radler. Menschen auf zwei Rädern, die auch einen Platz auf dem Asphalt haben wollen, das geht dem verfassungstreuesten Cowgirl zu weit. Von wegen, jeder dürfe hier sein Glück suchen …

Solange Radfahrer schillernde Sporthemdchen durchschwitzen und einen windschnittigen Helm aufhaben, werden sie als Abart des Joggers noch kopfschüttelnd toleriert. Immerhin hat ja Lance Armstrong gezeigt, dass man den Europäern, vor allem den Franzosen, auf diese Weise noch eine Umdrehung voraus sein kann. Was aber den gemeinen Ökoradler betrifft, der für den kleinen Stadtverkehr keinen Lkw-großen „Es Ju Wie“ bemühen mag, für den hat jeder noch so freundliche Amerikaner nur noch puren Darwinismus übrig. Übrigens ohne Wimpernzucken selbst die, die sonst Darwins Lehre am liebsten aus dem Unterricht verbannen wollen.

Natürlich wird US-Kids nicht der Segen einer pädagogisch wertvollen „Verkehrserziehung“ zuteil, wie ich sie im Vor-Pisa-Deutschland noch genießen durfte. Ich erinnere mich an einen übellaunigen Verkehrspolizisten an meiner rheinischen Grundschule, der uns Drittklässler so anschnauzte, dass ich, starr vor Angst, über die aufgemalten Straßenränder fuhr.

Aber auch die hiesige Führerscheinprüfung hat es nicht unbedingt darauf abgesehen, die Amerikaner für die besonderen Nöte unmotorisierter Zweiradfahrer zu sensibilisieren. In der Führerscheinprüfung tauchen genau 0,0 Fragen zum Straßenverkehr mit Fahrradfahrern auf.

Das erklärte vielleicht, warum einer dieser gemeinhin freundlichen SUV-Fahrer neulich meinte, er habe durchaus und vor jeder US-Jury das Recht, mich umzufahren. Meine internationalen Handzeichen zum Abbiegen und Spurenwechsel beantwortete der Mann nämlich mit wütendem Gasgeben. Anstatt mich im gemütlichen Nachmittagsverkehr von rechts nach links die Spur wechseln zu lassen, lenkte er nach einer Weile des Hin und Her sein fahrendes Wohnzimmer gefährlich nahe an mein Fahrrad. Ich schrie und gestikulierte. Vor einer roten Ampel konnte ich mich doch noch vor ihm durchzwängen. Er schrie auch. Ob ich schon mal von Bürgersteigen gehört hätte, da gehörte ich nämlich hin. Darwinismus, „survival of the fittest“: Die Straße gehört dem Auto, fertig. Diesem Credo gemäß stirbt in Manhattan übrigens jede Woche mindestens ein Radler.

Für diese Kriegserklärung rächen sich die wenigen Fahrradfahrenden natürlich. Nicht nur ausgebuffte Kurierfahrer, sondern auch Normalo-Biker halten sich, wohl aus der Einsicht heraus, dass es keine Regeln für sie zu geben scheint, eben an gar keine Regeln. Staunend schaute ich ihnen anfänglich zu, wie sie in horrender Geschwindigkeit in eine dreispurige Einbahnstraße falsch herum einschießen, in New York auf Autobahnzubringer fahren, in Washington die Sicherheitspfähle ums Weiße Haus herum ignorieren, frech bei Rot über Kreuzungen rasen und ihre Räder zum Schutz vor Diebstahl mit in den Supermarkt bringen.

Die Polizei, so scheint es, ignoriert all dies. Wahrscheinlich jagt sie ohnehin gerade wieder einen Amokläufer auf dem Pendlerhighway.

Ich jedenfalls habe jetzt Gewissheit: Amerika ist doch noch das Land der Gesetzlosen und Freien. Man braucht dazu heute statt Pferd ein Rad, aber dann heißt es nur noch: Easy Rider.

Fotohinweis: ADRIENNE WOLTERSDORF OVERSEAS Fragen an Armstrong? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN