Die Rituale der Clubkultur

THEATER Bei der Performance „Rave – The Party Simulator“ im Rahmen des Nordwind-Festivals erleben die Zuschauer und Mitakteure im Ritter Butzke eine alkoholgeschwängerte Partynacht im Schnelldurchlauf

Freitagnacht. 22 Uhr. Inmitten der 70er-Jahre-Einöde hinterm Moritzplatz liegt das Ritter Butzke. Hämmernde Beats und stampfende Bässe dringen aus dem dritten Hinterhof des roten Backsteinbaus. Eine ehemalige Fabrik, heute Techno-Club, das Übliche. Eigentlich mag ich kein Elektro. Zu laut, zu krass, zu anonym für mich. Kontextlose Musik macht mir Angst. „Du nimmst die falschen Drogen“, sagen die Leute. „Ich nehm gar keine Drogen“, sage ich. „Siehst du!“, sagen sie, „das ist das Problem!“

Im Ritter Butzke zuckt Strobolicht durch den Diskonebel. Ein lorbeergekrönter Schauspieler in Bettlakentunika begrüßt jeden Zuschauer mit Umarmung. Man soll seinen Namen auf eine Liste schreiben. Jeder bekommt ein Bändchen ums Handgelenk, danach den ersten Wodka-Shot. Orange. Ein anderer Schauspieler in Tunika und Sonnenbrille will mein Bändchen sehen. Es ist pink, wie schön! Er bringt mich zu einem Kleiderständer. Ich soll meine Sachen ablegen. Bar, Bühne, ein Vorhang trennt den Raum und verstärkt das Wohnzimmerflair, das die aufgestellten Sessel und Sofas herauf beschwören. „Rave – The Party Simulator“ heißt die Performance der estnischen Theatergruppe Cabaret Rhizome, die im Rahmen des Nordwind-Festivals gezeigt wird.

Mittels der Bändchen werden die Zuschauer in Gruppen eingeteilt. Die Pinkfarbenen sollen sich heimlich hinter dem roten Vorhang verstecken, flüstert der mit der Sonnenbrille. Fünf junge Frauen und ein beleibter älterer Herr treffen sich hinterm Vorhang. The pink ones. Wir sollten eine Band gründen. Den Namen haben wir schon. Dann der nächste Shot. Mit Strohhalm. Wir sollen alles auf einmal trinken. Sehr schnell. Und so, dass der Strohhalm innen trocken ist. „It has to be dry inside“, sagt der Mann mit der Sonnenbrille. „And don’t lose it!“, mahnt er, „You have to keep the straw!“ Wir werden niemals erfahren, wofür.

Als Nächstes werden wir alle in eine Klokabine geführt. Fünf Frauen und ein Mann. Plus Spielleiter. Wir sollen unsere Telefone in Frischhalte- und Alufolie einwickeln. Dann kommt ein Mädchen in die Kabine, zieht die Hose runter und setzt sich aufs Klo, während der Spielleiter uns fragt, ob wir Stoff dabeihätten. Drogen. Alle schütteln die Köpfe. Der Sonnenbrillenmann ist schwer enttäuscht. In diesem Moment ertönt das Signal zum Weitertrinken. Wir sind ja schließlich für den Spaß hier. Und Spaß bedeutet Alkohol.

Déjà-vu für alle

Im Jahr 2009 gründeten ehemalige Schauspiel- und Choreografiestudenten der zur Universität Tartu gehörenden Viljandi-Kulturakademie das Theaterkollektiv Cabaret Rhizome. „Rave – The Party Simulator“ ist die dritte von mittlerweile vier Inszenierungen des Schauspielers Johannes Veski. Eine andere hieß „Mutandance“, laut Webseite eine Tanzperformance aus Tausenden Tanzstilen. Die neueste Produktion „Rhizomedia“ beschäftigt sich mit Fernsehen.

In „Rave“ werden die Rituale der Clubkultur durchgespielt. Enthemmung. Verbrüderung. Vollrausch. Irgendwann fragt die junge Frau, die mit uns auf Toilette war, ob jemand von uns mit ihr knutschen möchte. Spätestens jetzt haben alle im Raum ein Déja-vu.

Ich habe schon beim zweiten Shot aufgehört zu trinken. Mir wird einfach übel von dem Zeug. Spaß hab ich trotzdem. Von Spiel zu Spiel wachsen die pink ones mehr zusammen. Die Zuschauer/Mitakteure erleben eine Partynacht im Schnelldurchlauf. Und als nach zwei Stunden das Licht angeht, stehen überall im Raub leicht schwankende, lächelnde Gestalten herum, die Telefonnummern und Facebooknamen austauschen, um demnächst mal zusammen Party zu machen. Oder eine Band zu gründen. LEA STREISAND