llliterate Architektur

Aneignender Städtebau: Sabine Bitters und Helmut Webers künstlerisches Rechercheprojekt „LIVE LIKE THIS!“ über die Megametropole Caracas

von JOCHEN BECKER

Aus globaler Perspektive überformt oder verdrängt der selbst produzierte Städtebau eine Planung im ordnenden Geist der Moderne. Diese Art der Stadtentwicklung interessiert Sabine Bitter und Helmut Weber in ihrer künstlerischen Produktion. Der mehrmonatige Aufenthalt in der venezolanischen Megametropole Caracas hat das Projekt der beiden Österreicher – Sabine Bitter mit Wohnsitz Vancouver – ihrer gesellschaftspolitischen Untersuchung der städtischen Moderne radikalisiert. Gemeinsam mit dem gleichzeitig anwesenden Berliner Stipendiaten Raul Zelik – als Autor und politischer Essayist regelmäßig in Südamerika – wurden sie in den Strudel der widersprüchlichen Bolivarianischen Revolution hineingezogen. Diese Politik der populistischen Verstaatlichung wird weit heftigere Umstürze mit sich bringen als das gefeierte argentinische Reformprojekt.

Die auf Architektur bezogenen Stadtbilder von BitterWeber haben Chic und formale Attraktivität. Im Projekt „Super Citizens“ (2003–2005) werden die Bauten jedoch auf ihre Grundlinien reduziert und soziale wie politische Straßenaktivitäten der Bevölkerung per Photoshop herausgestellt. Einer Modernisierung von oben stellen BitterWeber das Caracas-Projekt „23 de Enero“ als exemplarische Aneignungspraxis von unten entgegen. Der Aufstand am 23. Januar 1958 gegen die Diktatur von General Pérez Jiménez ging mit der Massenbesetzung eines fast fertig gestellten Superblocks einher und gab dem Projekt auch den heutigen Namen. Den achtzigteiligen Gebäudekomplex mit 9.000 Wohnungen hatte der in Paris ausgebildete Architekt Carlos Raól Villanueva Mitte der Fünfzigerjahre entworfen. Inzwischen ist der Großsiedlungskomplex von informellen Strukturen – vorschnell als Slums abgewertet – durchzogen.

Die Businessmetropole Caracas, errichtet im Stil der US-europäischen Moderne, wird durch ländliche Zuwanderung massiv geprägt. Vernachlässigung der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Ölboom-Globalisierung ließ die Stadt auf fünf Millionen BewohnerInnen anschwellen. Die Gebäude und Freiflächen werden nun gegen vormalige Gebrauchsanweisungen angeeignet und neu genutzt. In der tief gespaltenen Stadt lebt über die Hälfte der BewohnerInnen in den Barrios, während sich die Wohlhabenden hiergegen wehrhaft abschotten. Vom real existierenden Reichtum der Luxusghettos berichtet die erstmals in Camera Austria Graz präsentierte Wanderausstellung „LIVE LIKE THIS!“, welche nun in kleiner Fassung im Berliner Projektraum Plattform präsentiert wird, allerdings nicht.

Während „die architektonischen Strukturen bis heute für die BewohnerInnen ein noch immer funktionierendes Lebens- und Wohnumfeld darstellen“, wie BitterWeber über die einst preisgekrönte Wohnstadt-Schlange „Pedregulho“ in Rio schreiben, zirkulieren davon nur „Bilder der Ruinen der Moderne“. Versagt habe in Brasiliens Metropole nicht die Architektur, sondern das soziokulturelle Gefüge, etwa die Gebäude-Instandhaltung. Dem angesichts revoltierender Banlieues wieder aufflammenden kulturpessimistischen Ghettodiskurs stellen BitterWeber „den heutigen Gebrauch als soziales Funktionieren“ entgegen.

Die Bauindustrie-Moderne des Superblocks „23 de Enero“ und die Aneignungspraktiken der Barrios löschen sich in Caracas nicht gegenseitig aus, sondern verlaufen ineinander. So hat sich auf den vormaligen Freiflächen ein selbst gebauter Siedlungsteppich etabliert, während die sternförmig arrangierten Gebäudezeilen als „vertikale Barrios“ neu belegt und partizipativ weiterentwickelt wurden. Knapp 400.000 Menschen sollen hier wohnen. Jeff Dierksen und Neil Smith beschreiben dies in ihrem Katalogbeitrag als „Fortführung der Modernisierung im Rahmen der neoliberalen Globalisierung“.

„Live Like This!“ Wirklich? Skepsis gegenüber solchen Praktiken der Not jenseits des Sozialstaates sind berechtigt. Doch erblühte im Projekt „23 de Enero“ die Idee der „Bolivarianischen Revolution“ als eine Lateinamerikanisierung von unten. 1825 erstritt der Kreole Simón Bolívar die Befreiung Südamerikas vom europäischen Kolonialregime und von der Sklaverei. Die Forderung nach Partizipation erfasst in Caracas die gesamte Gesellschaft. Die sprunghafte Umverteilungsstrategie von AlÛ Presidente Hugo Chávez – nun will er sogar die verarmte Bevölkerung der USA am Reichtum der venezolanischen Erdölindustrie teilhaben lassen – hat hier ein breites Gegenüber. So liegt der rebellische Superbarrioblock in der Nähe des Regierungssitzes. Die Massen besetzen nun auch die politische Arena, während Chávez seine telegene Rockpolitik ins Feld führt. Hier koppeln sich – so die Hoffnung – Massenbesetzungen, BürgerInneninitiativen, Stadtteilgruppen und Gewerkschaftsarbeit mit populärem Regierungshandeln rück. Ihr Bindeglied ist die in der Alltagssprache formulierte, landesweit diskutierte, 1999 verabschiedete und in hoher Auflage vertriebene Bolivarianische Verfassung. „The Constitution as Megastructure“ nennen dies BitterWeber und verschmelzen hierbei treffend Text und Superblock zu einer großflächig plakatierten ASCII-Grafik.

Darstellungsformen wie Zeitung, Poster, Tafel, Digitaldruck, Ausstellung, Video, digitale Diashow, Vortrag, Buchkollaborationen, Katalog und Fotokunst durchziehen die kulturelle Praxis von BitterWeber. Bei der Premiere in Graz war die Vielfalt der Präsentationsformen in der von Reinhard Braun kuratierten Ausstellung auf die Spitze getrieben – immerhin geerdet durch die Videogespräche mit Akteuren aus Caracas, denen man gerne folgte. Das Alphabet der aktuellen Stadtentwicklungen buchstabieren sie anhand weiterer Projekte in Almere oder Bronzeville sowie Los Angeles, Gdansk, Rio, Paris und Vancouver durch. Die informelle Nutzungsmoderne kondensiert sich in der frappierenden Collage „Learning from La Vega“, sie verkoppelt Moshe Safdis experimentelle Modernesiedlung „Habitat“ mit dem Barrio La Vega in Caracas.

BitterWeber untersuchen einen internationalen informellen Style, der sich weit wirkmächtiger in die Städte einprägt als Philip Johnsons „International Style“. „Illiterate Architecture“ nennt Ali Gonzalez, Künstler und Bewohner von „23 de Enero“, die Bauten der Analphabeten. Entsprechend wurde nun eine ehemalige Konzernzentrale zu einer universitären Bildungsanstalt umfunktioniert. Bild um Bild zeigt sich, dass der auf Zuwanderungsbegrenzung basierende Schrumpf-Hype eine global betrachtet herzlich nichtige Blase darstellt; solche Probleme möchte man andernorts gerne haben.

Bis 11. Juni, Plattform, Berlin. Vom 23. Juni bis 2. September, aut. architektur und tirol, Innsbruck, siehe auch:www.basis-wien.at