Sozialabbau verhindert

EU-Regierungen haben eingelenkt: Die Dienstleistungen werden nicht komplett dereguliert. In vielen Branchen ist Billigkonkurrenz nicht möglich

„Wer in den kleinen Büros kann denn schon Französisch oder Polnisch?“

von ULRIKE HERRMANN

Das EU-Parlament und die Gewerkschaften haben sich weitgehend durchgesetzt: Die EU-Regierungen haben die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie stark abgeschwächt.

Ursprünglich sollte das „Herkunftslandprinzip“ gelten. Wenn etwa ein tschechischer Handwerker seine Dienste in Frankreich anbietet, dann sollten die Rechtsbestimmungen aus Polen gelten. Europaweit fürchteten die Gewerkschaften, dass es zu Lohn- und Sozialabbau kommt. Im Februar hat das EU-Parlament den Entwurf daher abgelehnt. Nun haben die EU-Staaten eingelenkt.

Zunächst einmal semantisch: Das Wort „Herkunftslandprinzip“ wurde gestrichen und durch „Freiheit der Dienstleistungen“ ersetzt. Gleichzeitig wurden zahlreiche Ausnahmen formuliert, in denen diese Freiheit nicht gelten soll. Dazu gehören alle Sozialdienste einschließlich der Pflege sowie Verkehr samt Taxen und Nahverkehr. Außerdem sind audiovisuelle Medien, Gewinnspiele, Zeitarbeitsagenturen, Postdienste, Wasserversorgung und Müllbeseitigung ausgenommen. Gesondert geregelt sind Strom- und Gasversorgung sowie Finanzdienstleistungen. Zudem wurde den Mitgliedsstaaten viel Freiraum zugestanden: Sie dürfen alle Dienstleistungen ausnehmen, die „von allgemeinem Interesse“ seien. Alle Mitgliedstaaten stimmten zu, nur Litauen enthielt sich. EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy ist optimistisch: Er rechnet noch immer mit hunderttausenden von neuen Stellen. „Das sind Luftschlösser“, kontert Karin Alleweldt vom DGB. „Es gibt keine präzise statistische Abschätzung des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs.“ Auch das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit IAB kann nicht sagen, was die Dienstleistungsrichtlinie für den deutschen Arbeitsmarkt bedeutet: „Das haben wir nie untersucht.“

Die EU-Kommission führte immer gern die Architekten an, um zu erläutern, wer von der Dienstleistungsfreiheit profitieren würde. Das sehen die Architekten anders: „Für die Mehrzahl unserer Mitglieder ist die Richtlinie weniger relevant“, sagt Udo Sonnenberg vom Verband Deutscher Architekten- und Ingenieurvereine. Die großen Büros seien längst international aktiv – „von China bis in die Arabischen Emirate“. Die eher kleinen Büros würden hingegen oft gar nicht an den administrativen, sondern schon an den sprachlichen Hürden scheitern: „Wer kann denn Polnisch oder Französisch?“

Bisher ist die Fantasie groß in Europa, wenn es gilt, ungewünschte Wettbewerber aus den EU-Nachbarstaaten fern zu halten. So müssen deutsche Immobilienmakler in Polen ein abgeschlossenes Studium nachweisen und zudem noch zwei Jahre die Schulbank drücken, um ein polnisches Diplom abzulegen. Auch in den Niederlanden und in Italien wird von deutschen Versicherungsmaklern ein Universitätsabschluss verlangt. In Griechenland wiederum ist eine Geburtsurkunde auf Griechisch vorzulegen. „Es gibt unendlich viele Beispiele“, sagt Sven Hallscheidt vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK).

Hallscheidt befürchtet, dass „Protektionismus auch weiter möglich ist“. Denn die neue Richtlinie erlaubt den Einzelstaaten, auch dann gesonderte Auflagen zu erlassen, wenn die Branche eigentlich der neuen „Freiheit der Dienstleistungen“ unterliegt: So können sich die Regierungen etwa auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung berufen, auf den Schutz der Arbeitnehmer, der Umwelt oder des historischen Erbes. Zudem dürfen sie verlangen, dass Tarifverträge eingehalten werden.

Daher lobt der DIHK bisher nur eins: „Es wird deutlich leichter für Betriebe, sich im Ausland niederzulassen, weil es dort zentrale Ansprechpartner geben soll.“

Wenn das EU-Parlament die neue Richtlinie akzeptiert, kann sie noch im Herbst endgültig beschlossen werden. Die Mitgliedsstaaten müssten sie dann bis Ende 2009 umsetzen.

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