Vom Dschungel in die Großstadt

CINEMA NOVO Das Arsenal zeigt eine Werkschau des brasilianischen Filmemachers Joaquim Pedro de Andrade

„Macunaíma“ mischt Volkssagen mit Pop-Zitaten und Nouvelle Vague

von ANDREAS BUSCHE

Mit der Gründung der Hauptstadt Brasília brach 1960 eine zweite Moderne in Brasilien an. Was Ende des vorletzten Jahrhunderts zunächst unter geostrategischen Gesichtspunkten (eine föderale Verwaltung im geografischen Zentrum des Landes) entwickelt worden war, bildete unter der Schirmherrschaft von Präsident Juscelino Kubitschek Züge einer sozialen Vision heraus. Brasília sollte die Stadt der Zukunft verkörpern: eine Repräsentationskulisse, erdacht von den kühnsten Baumeistern ihrer Epoche, die gleichzeitig das Versprechen einer neuen, flachen Gesellschaftsordnung erfüllte, in der Klassengegensätze stadtplanerisch und architektonisch aufgehoben waren.

Doch nur wenige Jahre nach der Grundsteinlegung kündeten die rasch expandierenden Satellitenstädte, in denen sich die armen Tagelöhner sammelten, vom Scheitern dieses Traums. In den Vorstädten Brasílias erreichte die Verbrechens- und Arbeitslosenquote schon bald ein ähnliches Ausmaß wie in den Problemvierteln von Rio de Janero und São Paulo. In seiner Dokumentation „Brasília, Contradições de uma Cidade Nova“ (Brasília, Widersprüche einer neuen Stadt) formulierte der Filmemacher Joaquim Pedro de Andrade 1967 die vage Hoffnung, dass die Idee einer „gerechten Stadt in der Verantwortung eines jeden Bürgers liege“.

Das Kino war das zweite große brasilianische Moderne-Projekt, und paradoxerweise avancierte das Cinema Novo, wenn auch ex negativo, erst dank politischer Restriktionen zur integralen Gegenerzählung der 60er- und 70er-Jahre: 1964 wurde das Land von einem Staatsstreich überrollt, 1968 setzte das Militärregime die Verfassung außer Kraft. Das Kino prägte in diesen Jahren den Diskurs zwischen den bildenden Künsten und dem öffentlichen (politischen) Leben nachhaltig. Vierzig Jahre nach der ersten modernistischen Bewegung gelang es Filmemachern wie Glauber Rocha, Nelson Pereira dos Santos, Walter Lima Jr. oder Rogério Sganzerla, die Forderung nach einem brasilianischen Selbstverständnis umzusetzen, indem sie die Patchwork-Identität einer, historisch betrachtet, „Sklavennation“ stolz zum Programm erhoben. Für die Komplexität und Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse fanden sie ein ästhetisches Zeichensystem, das gleichermaßen offen war für transatlantische Einflüsse sowie lokale Folklorismen.

Joaquim Pedro de Andrade – oder Joaquim Pedro, wie er sich in seinen frühen Filmen nannte – war der wohl brasilianischste aller Cinemo-Novo-Filmemacher. Auch wenn er sich in seiner knapp dreißigjährigen Karriere ganz unterschiedlicher filmischer Mittel bediente, überzeugte sein Gesamtwerk durch eine seltene thematische Geschlossenheit. „Ich mache Filme in Brasilien und über Brasilien“, erzählte er in den Sechzigerjahren in einem Interview. „Nur Brasilien interessiert mich.“

Joaquim Pedro bevorzugte früh populäre Formen. Sein Porträt des Fußballstars Garrincha (1963) gehört bis heute zu den schönsten Sportfilmen überhaupt; er beobachtet distanziert die öffentliche Persona, lässt sich aber gerade in der zweiten Hälfte auch von der Fußballbegeisterung seiner Landsleute anstecken. „Freude des Volkes“ ist der Film untertitelt. Auch wenn er im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen nie explizit politisch wurde, verband er das Populäre immer mit einem sozialen Kommentar. Sein neorealistischer Favela-Kurzfilm „Couro de Gato“ (Katzenhaut) verfolgt zur der Karnevalszeit einige Slumkids bei der Jagd nach streunenden Katzen; deren Haut war damals ein begehrtes Material bei der Herstellung von Samba-Trommeln.

„Karneval“ – in Anlehnung an Mikhail Bakhtin – ist für die brasilianische Kulturkritikerin Ivana Bentes auch der Schlüsselbegriff für das Verständnis von Joaquim Pedro. In keinem Film wird das so deutlich wie in dem Tropicalia-Klassiker „Macunaíma“ (1969), der mühelos eine Brücke vom Cinema Novo, dem Autorenkino, zum Cinema Marginal, dem Underground-Kino, schlug. Die gleichnamige Hauptfigur, ein schwarzer Gnom, der sich nach dem Bad in einem Wunschbrunnen in einen weißen Brasilianer verwandelt, folgt im Film gewissermaßen der Spur der Tropicalia-Bewegung der späten Sechzigerjahre: vom Dschungel in die Großstadt und zurück in den Dschungel, wo er am Ende von einer kannibalistischen Wassernymphe gefressen wird.

Joaquim Pedro vermischt in „Macunaíma“ Volkssagen mit Pop-Zitaten und Nouvelle Vague sowie Elementen der Burleske und Satire. Als Leitmotiv diente ihm die Metapher des Kannibalen, als Hommage an den Schriftsteller Oswald de Andrade, der Ende der 20er-Jahre in seinem „Manifesto Antropófago“ einen kulturellen Kannibalismus propagiert und damit auch den Tropicalistas ein Theoriewerkzeug zur Hand gegeben hatte: die Vereinnahmung fremder Einflüsse im Dienste einer genuin brasilianischen Identität. In Bakhtins Karnivalismus-Idee waren Grundzüge der Tropicalista-Bewegung bereits angelegt: der Hang zur Allegorie, Primitivismus, Transgression, Assimilation, Transgender, Tanz/Musik. Joaquim Pedro brachte sie, ähnlich den damals populären Rockbands Os Mutantes und Secos & Molhados, in einer schrillen, einzigartigen Collage zum Klingen.

In der Reihe großer brasilianischer Regisseure ist Joaquim Pedro auch nach seinem Tod 1988 eine eher marginale Figur geblieben. Sein letzter Film „O Homem do Pau-Brasil“ (The Brazilwood Man, 1981), eine biografische Annäherung an Oswald de Andrade, widersetzte sich wie schon „Macunaíma“ jeder erzählerischen Konvention (de Andrade wurde von einem Mann und einer Frau gespielt), kam mit diesem multiplen Ansatz aber dem Mann, der wie kein zweiter brasilianischer Intellektueller den Synkretismus gefördert hatte, wahrscheinlich näher, als es eine klassische Biografie je könnte. Und auch hier wird am Ende gefressen: Der weibliche de Adrade inkorporiert den männlichen Teil und errichtet sozusagen auf den Trümmern des alten Brasiliens ein neues Matriarchat.

Umso verwunderlicher erscheint es da, dass die digitalen Kopien, die ab heute im Rahmen der Joaquim-Pedro-Retrospektive im Arsenal gezeigt werden, das Logo des staatlichen Ölkonzerns Petrobras tragen. Petrobras gehört zu den wichtigsten Förderern des brasilianischen Kulturerbes. Dass der Konzern nun ausgerechnet die Restaurierung eines Filmemachers finanziert, der in der letzten Einstellung seines konsumkritischen Kurzessays „A Linguagem da Persuasão“ (Die Sprache der Überzeugung, 1970) eine riesige Coca-Cola-Werbetafel über den Dächern der Favelas als Mahnmal in Stellung brachte, mag ein Fall von merkwürdiger Schicksalsfügung sein.

■ Joaquim Pedro de Andrade, 4. bis 26. Juni, Arsenal, www.arsenal-berlin.de