JAN FEDDERSEN über PARALLELGESELLSCHAFT
: „Sie Umweltsau! Heben Sie’s wieder auf“

Eine Art Müllintifada der Kinder in Neukölln, kurz vor Schulbeginn: Ökovolkspolizei morgens um kurz vor acht

Wer bringt das denen bloß bei? Tagsüber reizende kleine Kinder, die brav am Kiosk um Bonbons bitten, kleine Portemonnaies aus Anoraks klauben und Groschen heraussuchen – und, wenn sie lieb sind, meist noch einen Lolli draufzukriegen. „Aber keine Plastikmonster“, sagt die Frau hinter dem Tresen, „das ist nicht gut vor der Schule.“

Man liebt diese Zwerge jedenfalls sehr, prächtiger Nachwuchs aus der Nachbarschaft, sie sind Zukunft, sie wollen hoffentlich nach oben, sie scheinen ehrgeizig, ihnen ist die Welt ein offener Horizont, und Deutsch können sie bald so gut wie Türkisch, Arabisch oder Albanisch.

Das ist natürlich eine Gegend, in die man nicht fährt. Die Rütli-Schule sehr nah, die pubertierenden Jungs hormonell grundsätzlich überheizte Gestalten, und die Trottoirs scheinen noch hundekackiger als sonst wo in Berlin. Aber Ökos wie wir, die kaum ohne schlechtes Gewissen im Supermarkt eine Plastiktüte erwerben, die übersehen diese, wie sagte Wolfgang Schäuble in etwa, Slumhaftigkeit dessen, was Multikultikulturalität wirklich bedeutet: ein nervöses Gewusel ohne romantisches Surplus.

Was soll da schon schief gehen, hat man mal ein Kaugummi in der Tasche, steckt ihn in den Mund und weiß nicht wohin mit dem silbernen Einwickelpapier. Ein Papierkorb nicht in der Nähe, der Gang eilig … Soll man es wagen? Ja. Nicht gedankenlos, oh nein, war (und ist!) doch klar: Falsch ist das. Als ich das Stückchen Abfall aus der Handfläche entließ, war mir, als würde ich den Boden mit ekelhaftestem Dreck versehren – menschengefährdend, mehr noch: menschenverachtend.

Und kaum war das zerknüllte Blättchen zu Boden gesegelt, traf mich der Blick zweier Mädchen und eines Jungen, die ebenfalls des Weges waren, aber zur Schule. Trippelten heran, nahmen mich ins Visier, ohne Ansatz bittenden Lächelns, kein Anflug von dem, was früher uns beigebracht wurde durch den Satz „Erwachsene immer artig grüßen“, und sagten: „Sie Umweltsau! Heben Sie das sofort wieder auf.“

Nix mit Respekt vorm Alter, eine dreieinige Polizeihaftigkeit der umweltbewusstesten Sorte. Kinder sind nicht nur gut und lieb und niedlich, wer wüsste das nicht. Aber so? Muss das sein, obendrein mitten in Neukölln, wo doch die Frauen alle unter Tüchern stecken, unterdrückt sind und die Väter brutal herrschen? Meine Kioskfrau klärt auf: „Das haben die aus der Schule. War bei meinem Kleinen auch so. Mülltrennung und so. Und Papier nur in die Tonne, Flaschen extra, nix zusammen.“ Und ein ethnisch orientiertes Erklärungsmuster lieferte unser Schornsteinfeger nach, ein umgänglicher Mann mittleren Alters, der in Wilmersdorf wohnt und um seinen Kehrbezirk nicht beneidet wird. „Ich find det jut hier, wa. Freundliche Leute, so allgemein.“ Und wie sieht’s in den Wohnungen aus? Die muss er kennen, Kohleöfen gibt’s ja da und dort noch. „Also, mal so einfach jesacht, die Türken picobello, kannst bei denen vom Boden essen, die Araber etwas weniger, die Jugos na ja, und die Deutschen, bei denen ist’s wie bei mir nicht unterm Sofa. Abschaum.“ Der Mann, ein akribischer Beobachter, meinte noch, gebeugt über seine Emissionsschutzverordnungsausführungsbuch, die Welt der Orientierungen für Kaminkehrer ist nicht einfach, das könnte ich ihm glauben, „die Türken, det sind die allerbesten Deutschen, wie wir in Wilmersdorf.“

Das sind natürlich ganz andere Befunde als jene, die man so liest über Rütli-Schulen und Slums und Nulltoleranz mit Schlägern und Handyabzockern. Neukölln ist aber so. Irgendwie lieblicher als man selbst glaubt. Da nimmt man doch gern eine kleine müllgestiftete Aktion der kleinen Volksökopolizei in Kauf.

Demnächst übt übrigens die halbe Grundschule in der Nachbarschaft das ordentliche Überqueren der Straße ohne Ampelhilfe. Man sieht sie schon vor sich: Autofahrer, die in der Tempo-30-Zone mit 45 km/h brettern und von Kindern aufgehalten werden, aus dem Sitz gezerrt, angeklagt, verhöhnt, beschuldigt, in Scham schließlich entlassen: Die Welt kann nur besser werden. Schuldgefühl ist der Auftakt aller Zivilisation.

Fragen zu Kaugummi? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über GERÜCHTE