Die Karnevals-Queen von Neukölln

Gail Edmund-Faatz aus Trinidad managt von ihrem Wohnzimmer aus die Karnevalsgruppe „Caribbean Heatwave“. Für die 39-Jährige sind die Vorbereitung und Teilnahme an der jährlichen Riesenparty in Kreuzberg auch ein Mittel gegen Heimweh

Die Trinibegonians sind mindestens so karnevalsverrückt wie die Brasilianer

Von Nina Apin

Bei Gail Edmund-Faatz zu Hause sieht es aus, als sei eine bunte Glitzerbombe explodiert: Auf den Polstermöbeln im Wohnzimmer türmen sich Berge von rotem und goldenem Tüllstoff, der Boden ist mit funkelnden Perlen, Pailletten und Kartons voller halbfertiger Kostüme übersät. „Dieses Jahr wird es wirklich knapp“, sagt die Frau mit dem krausen Kurzhaarschnitt und seufzt. In drei Tagen steht der große Umzug beim Karneval der Kulturen an und sie muss noch mal eben die Kostüme für 38 Leute nähen. Bisher sind nur die knappen rot glänzenden Höschen und goldbestickten Armbänder fertig, in denen die Mitglieder der Karnevalsgruppe „Caribbean Heatwave“ durch Kreuzberg ziehen sollen. Der Rest des Aufzugs – Glitzergürtel, Kopfputz, Bustiers und Männerbrustpanzer – liegt noch als grob zugeschnittene Einzelteile in Kartons.

Zu spät dran ist Gail Edmund-Faatz nicht. Bereits vor zwei Monaten hat sie kiloweise Tüllstoff, Kunstleder und Perlen eingekauft und Schnittmuster für ihre Truppe entworfen. Doch das Herstellen der opulenten Kostüme bedeutet mühselige Kleinarbeit und ist selbst für eine erfahrene Näherin alleine kaum zu schaffen.

Für die 39-Jährige ist das jährliche Chaos mittlerweile Routine. Seit sieben Jahren organisiert sie, ehrenamtlich und fast alleine, den Karnevalsauftritt der „Caribbean Heatwaves“. Das ist eine bunt zusammengewürfelte Truppe, die unter der Flagge von Trinidad und Tobago tanzt. Nicht alle sind gebürtige Trinibegonians, wie sich die etwa eine Million Bewohner der Zwillingsinseln nennen; viele sind Afrikaner oder Deutsche und reisen aus anderen deutschen Städten zum Karneval nach Berlin.

Als „Caribbean Heatwaves“ durch die Straßen zu tanzen, macht den Amateuren Spaß – doch die Vorbereitungen bleiben allein an ihrer „Karnevalspräsidentin“ hängen. Die nimmt es mit viel Humor: „Es ist immer dasselbe“, sagt sie und lacht. „Die Leute kommen im allerletzten Moment und fragen: ‚Gail, hast du ein Kostüm für mich?‘ “ Mehr als eine flüchtige Anprobe wenige Stunden vor dem Umzug ist dann nicht mehr drin.

Doch Abstriche bei den fantasievollen Kostümen zu machen, käme Gail Edmund-Faatz nie in den Sinn. Schließlich ist sie eine gebürtige Karnevalista: Sie kommt aus Trinidad, einer Karibikinsel, die einmal im Jahr den zweitgrößten Karneval der Welt feiert. Die Trinibegonians sind mindestens so karnevalsverrückt wie die Brasilianer: An Rosenmontag und Faschingsdienstag schläft auf den Inseln niemand. „Wir feiern und tanzen den ganzen Tag und die ganze Nacht auf der Straße“, erzählt Gail Edmund-Faatz. „Die Atmosphäre dort kann man nicht beschreiben, ohne dort gewesen zu sein.“

Seit zwölf Jahren lebt die „Trini“ schon in Berlin. Sehr gerne, wie sie sagt. Ihren Mann, einen Berliner Buchhändler, lernte sie auf der Fähre von Trinidad nach Tobago kennen. Aus einem geplanten Gegenbesuch von drei Monaten wurden am Ende zehn Jahre Ehe – und ein Leben im kalten Berlin. Tochter Rachel Lee blieb im großen Haus der Großfamilie auf Tobago zurück. Die mittlerweile 20-Jährige sieht Gail Edmund-Faatz nur einmal im Jahr, wenn sie Urlaub in der Heimat macht – natürlich zur Karnevalszeit. Dann sieht sich die Wahlberlinerin mit ihrer Familie die aufwändigen Paraden an: die mit riesigen Feder-oder Tüllkostümen geschmückten „Queens“, die den Zug anführen, flankiert von zwei „Flagwomen“ mit der schwarz-rot-weißen Nationalflagge. Dahinter opulent kostümiertes Fußvolk von bis zu 6.000 Personen. Ein Spektakel, gegen das der „Karneval der Kulturen“ natürlich nicht im Geringsten ankommt.

„Viele in Berlin haben Hemmungen, sich zu kostümieren“, sagt die Karnevalsaktivistin. Nicht etwa wegen des Alters oder der Figur – die älteste Tänzerin ist 60 –, sondern wegen des Umfelds: „Die Atmosphäre hier ist einfach so gar nicht karibisch“, findet sie, und blickt sich etwas traurig in ihrem nüchtern eingerichteten Neuköllner Wohnzimmer um: Coachgarnitur, Computer-Arbeitsecke, dazu Dauerregen vor dem Fenster.

Gail Edmund-Faatz seufzt leise. Dann erzählt sie von der gescheiterten Ehe, der Arbeitslosigkeit, dem karibischen Imbiss, den sie gern aufmachen würde, für den aber das Geld fehlt. „Wenn ich mit meiner Familie zu Hause telefonieren kann, dann war es ein guter Tag“, sagt sie und blickt auf das Foto ihrer Tochter an der Wand: eine schöne junge Frau inmitten tropischer Pflanzen. „Sie ist Model“, erzählt Gail Edmund-Faatz stolz. Am 4. Juni hat sie einen großen Auftritt bei einem Wettbewerb – am gleichen Tag wird ihre Mutter als Queen mit riesigen Rückenflügeln aus Tüll die Karnevalsformation Nummer 87 anführen.

Um Heimweh und trübe Gedanken zu verscheuchen, wirft Gail Edmund-Faatz die Stereoanlage an. Aus den Boxen schallt Soca, die Nationalmusik ihrer Heimat. Treibender Drum-Rhythmus, fröhlicher Gesang, eine simple Mitsingmelodie: Sofort liegt Karnevalstimmung in der Luft. Die 39-Jährige wackelt mit den Hüften und singt mit: „The Warriors are hyper ready.“ Der Song heißt „Deutschland“ und ist die inoffizielle WM-Hymne von Trinidad und Tobago. „Soca Warriors“ – gleichzeitig eine Anspielung auf soccer, das englische Wort für Fußball – nennt sich die Nationalmannschaft des kleinsten Landes dieser WM, zum ersten Mal hat man sich in diesem Jahr qualifiziert.

Für Gail Edmund-Faatz wäre es ein Traum, mit „Caribbean Heatwave“ ihre Mannschaft bei den Spielen in Dortmund, Nürnberg und Kaiserslautern im Stadion anzufeuern. Noch ist unklar, ob das Internetaktionshaus Ebay, das die „Soca Warriors“ sponsert, sie für die Halbzeitshow engagiert. Wenn ja, hätte die deutsche Queen der Karibik nach dem Karneval noch einmal richtig Stress. Aber dafür hätte sich die ganze Näherei dieses Jahr mal so richtig gelohnt: „So viele Leute schauen sonst nie auf unsere Inseln“, sagt sie. Und vielleicht sieht ja auch die Familie zu Hause im Fernsehen, wie tapfer sie hier die Tradition ihres Landes hochhält.