„Jedes Couplet muss ein Erfolg sein“

KOMISCHE OPER Nicolas Stemann über Offenbachs „La Périchole“

■  Während des Theatertreffens sah man ihn auf der Bühne: In seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks „Kontrakten des Kaufmanns“ dirigiert er Schauspieler und Musiker nicht nur wie ein Bandleader über die Bühne, sondern singt auch selbst eine revuetaugliche Nummer, in der er Songs von Falco und Rio Reiser auf die Finanzkrise umdichtete. Überhaupt spielt die Musik für den Theaterregisseur Nicolas Stemann, der in seiner Zeit als Student auch als Barpianist unterwegs war, immer eine große Rolle, nicht nur wenn er Textgebirge von Elfriede Jelinek in unterhaltsame Aufführungen verwandelt, sondern auch bei den klassischen Autoren wie Friedrich Schiller. Jetzt arbeitet er zum ersten Mal an einem Opernhaus. Am Sonntag hat seine Inszenierung von Jacques Offenbachs Oper „La Périchole“ Premiere.

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Stemann, an der Komischen Oper arbeiten Sie gerade an den Endproben von „La Périchole“ von Jacques Offenbach. Was interessiert Sie an dem Komponisten?

Nicolas Stemann: Da gibt es einiges. Das unglaubliche Tempo etwa, das von der Erfahrung einer enormen Beschleunigung zeugt. Oder dieses unbedingte Unterhaltenmüssen: Der Spaß bei Offenbach ist immer doppelbödig. Offenbach, und da ist er unter Opernkomponisten ziemlich einzig, komponiert ironisch, uneigentlich. Die Musik ist nie nur das, was sie zu sein scheint. Das hat etwas ziemlich Modernes, wie dieses Uneigentliche und Ironische in der Komposition alle Gewissheit auflöst. Das gilt auch für die Figuren, man fragt sich, ob der, der singt, mit sich selbst identisch ist, oder ob er nur eine Show macht. Das ist gerade in der Oper, wo es immer um Eigentlichkeit geht, um Pathos und Gefühle, ziemlich selten.

Vor knapp zwei Wochen standen Sie noch selbst auf der Bühne in Ihrer Inszenierung von Elfriede Jelineks „Kontrakte des Kaufmanns“, die zum Theatertreffen eingeladen war. Von Jelinek zu Offenbach, ist das nicht ein ziemlicher Sprung?

Das wirkt auf den ersten Blick sicher wie etwas sehr anderes. Man denkt bei Offenbach, dass er sehr viel leichter sei als ein Text von Jelinek. Das ist aber überhaupt nicht so. Ich glaube, es gibt sogar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Literatur von Elfriede Jelinek und der Musik von Jacques Offenbach.

Denken Sie da an das ironische Verhältnis zur Welt?

Beides sind satirische Autoren. Und beide haben viel Humor. Aber natürlich vergleicht man hier Äpfel mit Birnen. Sicher macht sich auch Offenbach über konkrete tagesaktuelle Missstände lustig, aber das ist für uns heute natürlich nicht mehr wirklich zu entschlüsseln. Das ist aber auch bei Elfriede Jelinek nicht das wirklich Interessante. Auch und gerade wenn Kunst sich mit politischen Dingen beschäftigt, ist es nicht ihre Aufgabe, den Kommentar zur „Tagesschau“ zu liefern. Es geht doch vor allem darum, Energien zu erzeugen. Wenn man es schafft, wie Jelinek, eine Kritik am Kapitalismus in Energie umzusetzen, dann ist das toll. Bei Offenbach sind es etwa das Tempo und das Spielerische, das die Energie erzeugt. Die Handlung wird in Riesensprüngen vorwärtsgetrieben, in der Musik liegt die Erfahrung einer ungeheuren Beschleunigung, die auf das Leben in Paris Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Man hört mechanische Webstühle, Nähmaschinen, Eisenbahnen. Und vor allem hört man den wahnsinnigen Unterhaltungszwang. Der hat etwas Manisches und Neurotisches.

Beruht das auf Erfahrungen des Komponisten?

Ja. Paris im 19. Jahrhundert, Offenbach kommt aus Deutschland als mittelloser Jude da hin, und er muss sich auf einem wahnsinnig hart umkämpften Pflaster bewähren. Jedes Couplet, jede Nummer muss ein Erfolg sein: Wenn das Publikum jetzt nicht auf den Stühlen steht und johlt, geht’s vielleicht morgen schon wieder bergab. Diesen Druck hört man, der ist in die Musik eingeschrieben. Da können wir heute andocken.

Spiegelt sich das auch im Libretto?

Ja, da geht es ständig um so etwas. Man muss Applaus für das bekommen, was man tut. Wer keinen Applaus kriegt, ist eigentlich tot und fliegt raus. Ich finde diese Doppelbewegung bei Offenbach interessant, zu unterhalten und Unterhaltung zu reflektieren. Die Musik funktioniert ja sehr direkt – das sind fast alles Ohrwürmer, und trotzdem sind in ihr gleichzeitig die perfiden Mechanismen der Unterhaltung reflektiert. Sie bewährt sich auf einem Markt, den sie im gleichen Moment kritisiert. Damit hat es viel von Pop.

Die Operette ist ja auch eine in Misskredit geratene Gattung, weil sie so schnell angestaubt wirkt.

Das geht schneller, als man gucken kann, dass sich der Staub da wieder draufsetzt und alles, was ich Ihnen erzähle, nicht mehr spürbar ist. Das ist die schwierige Aufgabe von Markus Poschner, dem Dirigenten und mir, dieses Werk zu seiner eigentlichen Schärfe zurückzuführen. Sonst wird es ganz schnell Unterhaltung fürs Altersheim.

Schon in Ihren Jelinek-Bearbeitungen spielt Musik und die Musikalität des Textes eine große Rolle, Musiker sind mit auf der Bühne. In der Schlussdebatte des Theatertreffens fiel deshalb der Vorwurf, Musik ersetze im Theater den Text.

Na, dabei lesen wir in den „Kontrakten“ 99 Seiten ungestrichen vom Blatt. Da ist der Text schon zentral, aber es geht natürlich darum, ihn in Musik zu überführen. Das interessiert mich im Theater, das ist mein Projekt. In meiner „Räuber“-Inszenierung etwa ging es mir darum, die Sprache Schillers so zu behandeln, als wäre sie Musik. Dadurch gibt es eine ganz andere Möglichkeit, mit dem Pathos umzugehen, man muss das nicht verschämt verkleinern, man kann die Größe der Sprache zelebrieren. Text funktioniert ja erst mal rational, Musik eher irrational. Mir geht es immer um die Verbindung von beidem.

Ist die Handlung von „La Périchole“ nicht sehr weit von uns entfernt: Ein Vizekönig verliebt sich in eine Straßensängerin?

Interessant ist an der Geschichte eine dramaturgische Wendung: Im Zentrum steht ein Liebespaar, die können nicht heiraten, weil sie zu arm sind. Dann gibt es verschiedene Intrigen, und am Ende des ersten Aktes finden sie sich in einer Situation, dass sie heiraten müssen. Aber nicht, weil sie sich lieben, sondern damit sie die Mätresse des Königs werden kann – und so steht die Heirat unter komplett falschen Vorzeichen. Dieses Moment, dass man nicht zu dem gezwungen wird, was man nicht will, sondern zu dem, was man ursprünglich wollte, finde ich eine unglaublich passende Metapher für den Zustand, in dem wir uns in der Konsumgesellschaft befinden.

Wie meinen Sie das?

Unsere vordergründige Aufgabe als Staatsbürger, ja, unsere fast einzige Aufgabe ist es ja, zu konsumieren. Geld ausgeben, die Wirtschaft ankurbeln. Man soll also tun, was man eigentlich eh wollte, konsumieren ist ja was Schönes, man nimmt sich was und genießt es – und plötzlich darf man das nicht nur, sondern muss es tun. Was passiert in dieser Situation mit dem Begehren? Diese merkwürdige Paradoxie im kapitalistischen System beschreibt Slavoi Zizek ganz gut: Klassisch freudianisch gibt es einen autoritären Vater, der den Genuss verbietet. Auf einmal kehrt sich das um, da gibt es, so Zizek, den obszönen Vater, der den Genuss befiehlt. Das ist vermutlich ein perfideres Herrschaftssystem als das autoritäre, gegen das man zumindest noch revoltieren kann.

Das Moment der Resistenz gegen Revolution hat Sie ja auch in der Inszenierung von Brechts „Heiliger Johanna“ beschäftigt.

Die „Heilige Johanna“ hat sicher Parallelen zu „La Périchole“: Bei Offenbach verliebt sich der Vizekönig in die Straßensängerin Périchole, weil sie im Schlaf murmelt: „Nieder mit dem Vizekönig.“ Anstatt sie zu bestrafen, holt er sie sofort an seinen Hof! Damit wird aber jeder potenzielle Widerstand absorbiert. Das ist auch eine Pointe der „Heiligen Johanna“: Sie wird nicht ermordet, sondern kanonisiert. Die Fleischfabrikanten wollen sie als Märtyrerin, mit ihrer Ikone kann man jetzt wunderbar Löhne senken und Arbeiter entlassen. Man kann tatsächlich Verbindungen finden zwischen Offenbach und Brecht. Teilweise, etwa bei der „Dreigroschenoper“, gibt es sogar eine direkte Nachkommenschaft.