Was ist es, was da schneit?

■ Eine Sache – viele WorteDas Produkt von „Schneilanzen“ trägt viele Namen: Eingebürgert hat sich Kunstschnee, mitunter auch Kulturschnee. Nüchterner wird von künstlichem oder technischem Schnee gesprochen, manche lehnen gar das Wort „Schnee“ in diesem Zusammenhang ab, weil sich das Winterniederschlags-Surrogat physikalisch-chemisch zu stark von duftig luftigem Schnee unterscheidet.

■ Die HerstellungTechnischer Schnee wird hergestellt, indem gekühltes Wasser per Druckluft durch eine Düse oder mithilfe eines Propellers in die Luft ausgebracht wird. Etwa die Hälfte des zerstäubten Wassers verdunstet direkt, doch wenn die Luft unter –3 Grad kühl ist, vereisen die restlichen Tropfen und fallen, sofern der Wind sie nicht verweht, zu Boden. Üblich sind standortflexible Propeller-Anlagen (Titelbild) und, wie am Wurmberg, fest installierte Hochdruck-„Schneilanzen“.

■ Die BeschaffenheitSchnee bildet oft mehrere Millimeter große kristalline Flocken. Das technische Ersatzprodukt besteht aus kompakten Kügelchen von meist um 0,05 Millimeter Durchmesser. Entsprechend ist die Dichte von Kunstschnee mit 300 bis 500 kg/m[3]zehnmal, sein Wassergehalt im Schnitt doppelt so hoch wie bei Naturschnee. Vor allem nimmt die Härte zu: Sie liegt mit 36 Newton 60-mal so hoch wie bei unbehandeltem Naturschnee, was Skifahrer zum Gebrauch aggressiverer synthetischer Hydrocarbon-Wachse mit Fluorzusätzen verleitet.

■ Die Chemie Die chemische Analyse zeigt, dass das Schmelzwasser von Kunstschnee viermal so leitfähig ist wie das von naturbeschneiten Flächen und Pisten. Deutlich erhöht sind Sulfat-, Kalzium-, Chlorid-, Schwefel- und Natriumwerte.

■ Der liebliche Wasser-TankDer wegen des erheblichen Wasserbedarfs notwendige Tank, der im Harz als „See“ firmiert, birgt durch den zweckmäßigerweise steilen Rand das Risiko von Kinder- und Wildunfällen.

■ Der mikrobielle BefundDas im „See“ während der schneefreien Periode stehende Wasser ist zwangsläufig mineralisch und mikrobiologisch stärker belastet als Niederschlag. Während des Sommers bietet es Algen, Einzellern und anderen Mikroorganismen einen Lebensraum, die das Schmelzwasser in Böden und natürliches Wassersystem transportiert. In den französischen Alpen durchgeführte Untersuchungen haben in den Tanks erhebliche Belastungen durch Keime wie Noroviren, Enterokokken oder Coli-Bakterien nachgewiesen, die je auf ihre Art Durchfall und Brechdurchfall auslösen.

■ Die Auswirkungen im Boden Auf Vegetation und Böden hat künstliche Beschneiung große Auswirkungen: Die Luftdurchlässigkeit einer Decke aus technischem Schnee ist gering. Weil zugleich die Temperatur-Leitfähigkeit erhöht ist, verursacht sie zwei komplementäre Stressfaktoren fürs Erdreich und seine Bewohner: Im Hochwinter werden tiefe Bodenfröste begünstigt, in der Abschmelzperiode bringt die beschleunigte Wärmezufuhr den Stoffwechsel der Mikroorganismen auf Trab, ohne dass zeitgleich frischer Sauerstoff der Luft entnommen werden könnte: Es entsteht ein Sauerstoffmangel, Fäulnisprozesse kommen in Gang – zum Schaden von Pflanzensamen und -keimen.

■ Die Lärm-EmissionKünstliche Beschneiung macht Krach: „Schneilanzen“ wie am Wurmberg verursachen in 20 Metern Abstand 80 bis 115 dB (A). Das entspricht der Lautstärke eines Presslufthammers in zehn Metern Entfernung.

■ Die mittelfristigen AussichtenLaut OECD wird die „Ertüchtigung“ von Skigebieten als „nach wie vor wichtigste Anpassungsstrategie“ des Wintertourismus an den Klimawandel selbst durch diesen limitiert: „Eine deutliche Abnahme der Scheedecke kann nicht kompensiert werden.“ Für Lagen unter 1.500 Metern empfehle sich die Kunstschneeproduktion daher nicht. Im Harz lagen in der vergangenen Dekade die Temperaturen durchschnittlich ein Grad höher als von 1960 bis 1970. Für Deutschland wird bis Ende des Jahrhunderts ein Temperaturanstieg um 2,5 bis 4,5 Grad erwartet – die stärkste Zunahme in den Wintermonaten und im Norden. Nach Modellen des Hamburger Max-Planck-Instituts für Meteorologie sinkt die Zahl der Frosttage bis dahin um fast zwei Drittel. Und ohne Frost – kein Kunstschnee.

■ Der WasserverbrauchIn der Produktion wird ein halber Kubikmeter Wasser pro Kubikmeter Schnee verbraucht. Weil mehrere Komplettbeschneiungen pro Saison üblich sind, ergibt sich pro Hektar ein Wasserverbrauch von mindestens 4.700 m[3]. Das entspricht dem jährlichen Wasserbedarf von 2,5 Hektar Weizen.

■ Der EnergieverbrauchBeschneiung verbraucht jährlich zwischen 13.000 und 27.000 Kilowattstunden Strom pro Hektar. Angesichts des sehr dichten Lanzen-Besatzes am Wurmberg und dessen geringer Höhe mit vergleichsweise milden Temperaturen ist ein hoher Wert wahrscheinlich. Der mittlere Jahresverbrauch eines Vier-Personen-Haushalts beträgt in Deutschland 5.009 Kilowattstunden.

BENNO SCHIRRMEISTER