Der Analytiker und sein Phallusfisch

Sigmund Freud erforschte schon als 19-jähriger Student die Sexualität – aber nicht die menschliche, sondern die der Aale. Merkwürdig: Später wollte der Vater der Psychoanalyse nichts mehr von dieser Art Männchen wissen

VON DIETMAR BARTZ

Am Anfang war der Aal: Ganz zu Beginn seiner Karriere hat Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, intensiv nach den Hoden des rätselhaften Fisches gesucht. Fast ein Jahr lang beschäftigte er sich mit dem Geschlechtsleben des Aals, der als Phallussymbol in die Traumdeutung sowie in Bücher, Filme und Gemälde einging. Aber kaum befand sich sein Aufsatz mit den Forschungsergebnissen im Druck, wollte Freud nichts mehr davon wissen.

Eine merkwürdige Geschichte. Sein ganzes Leben lang wertete Freud seine Aalforschung ab, verschwieg oder ignorierte sie. „War ihm der Untersuchungsgegenstand so widerwärtig, dass er sich außerstande sah, unbefangen damit umzugehen?“, rätselte sein Biograph Siegfried Bernfeld. „Oder ist es einfach eine jener seltsamen Koinzidenzen, dass der Entdecker des Kastrationskomplexes seine allererste Arbeit über die nicht auffindbaren Hoden des Aals verfasste und fast zwanzig Jahre verstreichen ließ, ehe er wieder einen wissenschaftlichen Gedanken auf die Sexualität verwandte?“

„Widerwärtig“ ist nicht ganz der passende Ausdruck. Freud befand sich in einem desolatem Zustand, als er hunderte von Aalen zerschnitt: von der ersten Liebe zerrüttet und von Abwehrängsten gequält, vom Vater bedrückt und von Schuldgefühlen gepeinigt, von Armut geprägt und vom Ehrgeiz getrieben. Dieses Gemenge enthielt alles, was Freud hätte Anlass für eine selbstanalytische Rückschau geben können: erotische Fantasien, Triebzwang und Sexverbot. Aber er schwieg. Auch seine Biografen machten die Verdrängung mit. Nicht einer hat versucht, Freuds Zeit als Aalforscher genauer zu analysieren.

Dabei lag Freuds Schweigen nicht nur eine Verdrängung im psychoanalytischen Sinne, also eine unbewusste Abwehr, zugrunde. Völlig zu Recht fürchtete er auch, dass die Allgemeingültigkeit seiner Theorien über Seele, Geist und Körper angezweifelt werden könnte, wenn sie zu erkennbar auf dem eigenen Erleben beruhen.

Wiederholt vernichtete er Briefe, Manuskripte und andere Unterlagen, um die Spuren seiner Erkenntnisprozesse zu verwischen. Die einzigen Dokumente, die aus seiner Zeit als Aalforscher erhalten sind, sind die, auf die er keinen Zugriff hatte. „Unsere Biographen sollen sich plagen“, schrieb er einmal in einem Brief an seine Verlobte Martha, und: „Ich freue mich schon, wie sie sich irren werden.“

Hinzu kommt, dass selbst von den vorhanden gebliebenen Dokumenten noch längst nicht alles veröffentlicht ist. Positiv formuliert, legen Freuds Nachlassverwalter in ihrer selektiven Veröffentlichungspolitik einen klaren historiografischen Gestaltungswillen an den Tag. Zu Recht steht jede kleine Freudforschung unter dem Vorbehalt, dass sie an Materialschwäche leidet.

Was tun, wenn das Sperma fehlt?

Zunächst aber die Fakten. Das Aalkapitel im Leben des 19-jährigen Medizinstudenten Sigmund Freud begann im Januar 1876 damit, dass sein Professor Karl Claus ihn für ein Stipendium empfahl. Der berühmte Zoologe, zuständig für die anatomische Grundausbildung Freuds, war von dem Fleiß und dem „großen Eifer“ des Medizinstudenten angetan, wie er zur Begründung schrieb. Kein Wunder, Freud war kaum zu übersehen: Im vorausgegangenen Sommersemester hörte er bei Claus fünf Wochenstunden Vertebraten (Wirbeltiere, zu denen auch die Fische gehören) und zwei weitere Stunden Mollusken (Muscheln, Schnecken, Tintenfische). Außerdem hatte Freud bei ihm noch ein dreistündiges zoologisches Anfängerpraktikum belegt. Freud war auf diesen Lehrer äußerst neugierig, denn als Darwinist vertrat Claus den aktuellsten Stand der Biologie.

Mit dem Stipendium schickte der Professor seinen Musterstudenten im Frühjahr 1876 für vier Wochen an die Zoologische Station nach Triest; die Hafenstadt an der Adria gehörte damals zu Österreich. Claus hatte Freud eine Aufgabe gestellt, die dessen gewaltigen Ehrgeiz ansprach: Finde die Hoden des Aals!

Freud sollte die noch ganz neuen Ergebnisse des renommierten Forschers Simon von Syrski überprüfen, der sich mit der „Aalfrage“ beschäftigt hatte. Von der Fachpresse und dem Publikum intensiv diskutiert, bedeutete sie eines der ganz großen Geheimnisse der zeitgenössischen Biologie: Wie funktioniert die Fortpflanzung dieser Fische? Wo kommen sie her, wo laichen sie, wie vollzieht sich die Befruchtung? Hundert Jahre zuvor hatte ein italienischer Forscher, Carlo Mondini, wenigstens die Eierstöcke der Aalweibchen entdeckt. Aber die komplementären Genitalien fehlten bislang. Gab es überhaupt Männchen?

Jetzt schien von Syrski einen großen Schritt weitergekommen zu sein. Er entdeckte zwei dünne, gestreckte Lappenorgane, die er ganz richtig für die lange gesuchten männlichen Geschlechtsteile hielt. Doch die Arbeit des Zoologen wies zwei Schwächen auf. Zum einen entdeckte von Syrski in diesem Lappenorgan keine Spermien, ein misslicher Umstand. Zum anderen setzte er auf die traditionelle Lupe und riet davon ab, „bei der Beweisführung von den mikroskopischen, den Täuschungen leicht ausgesetzten Untersuchungen ausgehen“ zu wollen.

Diese Verweigerung beruhte auf Fehlinterpretationen wenige Jahre zuvor, als andere Forscher einige unter dem Mikroskop entdeckte Fettkügelchen aus einem weiblichen Aal für Spermien hielten und damit beweisen wollten, dass Aale selbstbefruchtende Zwitter seien. Skurril war Syrskis Vorbehalt gegen das moderne Instrument dennoch. Hier also sollte Freud Klarheit schaffen. Wie ehrenvoll für ein Fünftsemester!

In einem launigen Brief an seinen Freund Eduard Silberstein liest sich der Sachverhalt so: „Du kennst den Aal“, schrieb Freud wenige Tage nach seiner Ankunft in Triest. „Lange Zeit hindurch war von dieser Bestie nur das Weibchen bekannt, schon Aristoteles wusste nicht, woher diese die Männchen nehmen, und ließ deshalb die Aale aus dem Schlamm entstehen. […] Vor kurzem hat ein Triester Zoologe, wie er sagt, die Hoden, somit die Männchen des Aals aufgefunden, aber weil er, wie es scheint, nicht weiß, was ein Mikroskop ist, keine genaue Beschreibung davon gegeben. Ich plage nun mich und die Aale, seine Aalmännchen wiederzufinden, aber vergebens, alle Aale, die ich aufschneide, sind vom zarteren Geschlecht.“

Das änderte sich schnell. Insgesamt 400 Aale untersuchte Freud in Triest und später noch in Wien, als ihm Claus weitere Aale kommen ließ. Neun Stunden täglich sezierte er, von 8 bis 12 Uhr und von 13 bis 18 Uhr. Die Arbeit nahm ihn gefangen, wie er Silberstein schilderte, „die Hände befleckt vom weißen und roten Blut der Seetiere und vor den Augen flirrende Zelltrümmer, die mich noch in den Träumen stören, und in Gedanken nichts als die großen Probleme, die sich an die Namen Hoden und Ovarien – weltbedeutende Namen knüpfen“. Wohl weil er zu wenige Aale erhielt, zerlegte er auch noch Rochen, Haie und andere Meeresbewohner. Die Einzelheiten sind unbekannt, weil Freuds handschriftlicher genauer Stipendienbericht an das geldgebende Ministerium später im Zuge der „Aktenverminderung“ vernichtet wurde.

Tragisch war, dass Freud zwar die „Syrski’schen Organe“ fand, aber nur die Angaben von deren Entdecker bestätigen konnte. Auch mit Hilfe des Mikroskops waren Spermien nicht aufzufinden – auch Freud konnte die „Aalfrage“ nicht beantworten. Das gelang erst 1922, als der dänische Forscher Johannes Schmidt die Laichplätze der Aale in der Sargassosee fand, so weit entfernt von Europa, dass die männlichen Aale auf ihrer mehrmonatigen Rückwanderung dorthin Zeit genug haben, Spermien auszubilden.

Immerhin veröffentlichte die ehrwürdige Akademie der Wissenschaften in Wien in ihren „Sitzungsberichten“ Freuds zwanzigseitigen, sorgfältig aufgebauten und formulierten Aufsatz. Dessen Schlüsselstelle lautet: „Die histologische Untersuchung des Lappenorgans macht es mir aber nicht möglich, der Meinung, dass dieses der Hoden des Aals sei, entschieden beizupflichten oder sie mit sichern Gründen zu widerlegen.“ Ehrlich, aber unspektakulär. Freuds Chance, Weltruhm zu erlangen, war vertan, und er wird es gewusst haben.

Intersexe und Zwitterforscher

Erst jetzt aber widerfuhr ihm die zweite, eigentliche Schmach. Professor Claus wird wohl von Freud über den wenig beeindruckenden Fortgang seiner Forschungen auf dem Laufenden gehalten worden sein; anders ist auch nicht zu erklären, dass Freud im Herbst mit einem zweiten Stipendium noch einmal für vier Wochen nach Triest geschickt wurde. Claus reichte nun Freuds Abschlussbericht als Aufsatz an die Akademie der Wissenschaften weiter, offenbar ohne mit Freud darüber noch weiter gesprochen zu haben. Vielleicht hatte Claus auch ruhmreichere Ergebnisse erwartet und dies zu erkennen gegeben. Jedenfalls wandte sich Freud schwer gekränkt von Claus und den Aalen ab, wechselte zu einem anderen Professor und begann mit Forschungen über das Nervensystem. Aktiv sorgte er sogar dafür, dass sein nächster Aufsatz nicht mehr in der biologischen, sondern in der anatomisch-physiologischen Abteilung der „Sitzungsberichte“ erschien.

Die eisige Ablehnung, die Freud seiner Aal-Arbeit selbst entgegenbrachte, geht aus allen Texten hervor, in denen Freud diese Zeit erwähnte. In einer Zusammenstellung seiner Publikationen aus den 1890er-Jahren schrieb er, von Syrski habe die Hoden des Aales „erkannt“ und er selbst habe nur Vorkommen und gewebliche Zusammensetzung untersuchen sollen – „auf Geheiß von Professor Claus“, als ob er nur ein willenloser Erlediger wertloser Arbeit gewesen wäre. Kein Wort mehr vom damaligen Forschungsbedarf, eine regelrechte Verfälschung.

Freud hat sich auch später nie zu den großen, in der ganzen Fach- und Publikumspresse aufgeregt diskutierten Fortschritten der Aalforschung geäußert: der Entdeckung der Larven des Aales im Mittelmeer 1894, der Entdeckung der ersten heranschwimmenden Larven im Nordatlantik 1904, der Entdeckung der Laichgründe 1922. Noch 1936, kurz vor seinem Tod, schrieb Freud an einen Kollegen über seine frühen Texte: „… die meisten von ihnen taugen wenig, einige aber gar nichts.“ Zu Letzteren gehöre die Arbeit „über die Lappenorgane des Aals, die man nur als ‚läppisch‘ bezeichnen kann. Entschuldigung, ich war 20 Jahre alt und mein Lehrer, der Zoologe Claus, war gewissenlos genug, dies, mein erstes Werk nicht zu überprüfen.“

Rückblickend hätte Freud sich durchaus ärgern können. Er hat nämlich durchaus eine neue, substanzielle Überlegung beigesteuert – allerdings ohne ihren Gehalt zu bemerken. Freud schrieb über die Eierstöcke und Hoden des Aals bedauernd: „… es ist ja nicht gelungen nachzuweisen, dass die erste Anlage beider Organe schon eine verschiedene sei.“ Den Umkehrschluss zog er nicht: dass die Aale geschlechtlich unbestimmt an die Küsten kommen und erst danach weibliche und männliche Merkmale wie Fortpflanzungsorgane und Größe ausprägen.

Junge Aale sind Intersexe! Sie sind, anders als Zwitter, nicht mit zwei Geschlechtern ausgestattet, sondern mit gar keinem – diese These wäre so korrekt wie sensationell gewesen. Tatsächlich gibt es zwar genetische Dispositionen, aber sie können von Umwelteinflüssen leicht überlagert werden. Geschlechtswandel, Intersexualität, greift Freud 1905 in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ wieder auf. Und darin streift er auch das Tierreich. Aale aber erwähnt er nicht.

Doch Freud war nicht erst in der Rückschau verärgert, sondern sofort nach Abschluss seiner Arbeit. Wenn Claus sogar nach dem zweiten Triest- Stipendium noch Aale hat nach Wien kommen lassen, konnte Freud seinem Professor nicht ernsthaft mangelndes Engagement vorwerfen. Über den Stand der Dinge musste Claus ohnehin informiert sein, sonst hätte er die Aale nicht geordert.

Möglicherweise hatte Claus zunächst überlegt, den Aufsatz aufgrund von Freuds mündlichen Mitteilungen gar nicht mehr zu veröffentlichen. So ergibt Freuds späterer Vorwurf, Claus habe sein Erstlingswerk nicht „überprüft“, einen neuen Sinn: Claus hätte Freuds Text dann wenigstens formal auf Veröffentlichungsreife durchsehen können. Vielleicht ist Freud bei Claus deswegen vorstellig geworden, und Claus hat den Aufsatz der Akademie eingereicht – mit einer unwirschen Bemerkung gegenüber Freud, eigentlich lohne der Text die Beschäftigung nicht. Denkbar ist aber auch ein ernsthafter Konflikt mit Claus, der auf dessen Verhältnis zu Syrski beruht.

Mit Triest verknüpfte auch Syrski Enttäuschungen. Der Mann, in der Nähe von Krakau geboren, war ein Tausendsassa, hatte als Apotheker, Arzt und Zoologe in verschiedenen europäischen Städten gearbeitet, leitete in Triest das städtische Naturgeschichtliche Museum, nahm an Expeditionen nach Ostasien teil, gründete die Adriatische Gesellschaft für Naturwissenschaften und schrieb das erste Buch über die Fische der nördlichen Adria. Für seine Aquarien mit einer an Darwin angelehnten systematischen Darstellung der Meeresbewohner, die er auf der Weltausstellung von Wien 1873 zeigte, war er sogar geadelt worden.

Aber sein großes Vorhaben scheiterte: die Errichtung eines städtischen zoologischen Forschungsinstituts, die er über Monate sorgfältig geplant und bereits mit Finanzierungszusagen wohlhabender Bürger auf den Weg gebracht hatte. Hingegen gründete Claus vom fernen Wien aus, wo er seit zwei Jahren lehrte, 1875 die Zoologische Station. Überstürzt nahm Syrski – übrigens nur wenige Monate bevor Freud in Triest eintraf – einen Ruf an die Universität Lwów (Lemberg) an. Dort lehrte er als erster Professor überhaupt Zoologie auf Polnisch, starb aber bereits sechs Jahre später mit 53 Jahren.

Waren sich der Praktiker und der Akademiker in Triest in die Quere gekommen? Hatte Claus mit seinen Universitätsgeldern von Syrskis Aufbauarbeit unterlaufen oder hintertrieben? Beide waren in ihren Vierzigern, publizierten über die maritime Fauna, hingen Darwins Abstammungslehre an und interessierten sich für Zwitterforschung. Vielleicht gewann Freud den Eindruck, Claus haben ihn gegen von Syrski benutzt? Sollte Freud eigentlich die Lappentheorie widerlegen, um die Aale, die dann doch hätten Zwitter sein können, wieder zurück in Claus’ Forschungsgebiet zu holen, aus dem von Syrski sie verstoßen hatte?

Nichts davon wäre mit Freuds idealistischer Vorstellung vereinbar gewesen, dass Wissenschaftler als hehre Forscher im Dienste des Fortschritts stehen. Die Aufgabe, von Syrski zu „prüfen“, hätte sich als Instrumentalisierung zugunsten einer gewissenlosen Herrschsucht seines Förderers dargestellt. Claus hätte alles Selbstlose verloren. Zwei Jahre später bezeichnete Freud einmal die Wissenschaftler als „Menschen, die einander den Bissen im Mund nicht gönnen“, eine wirklichkeitsnähere Einschätzung.

Während also Freuds Arbeit für die Aalforschung von begrenzter Bedeutung blieb, beeinflusste die Aalforschung seine Arbeit durchaus. Seine Enttäuschung über Claus und die Aale floss sicherlich in den Vorsatz ein, sich nur noch auf Feldern zu betätigen, auf denen originäre Ergebnisse zu erhoffen waren, wo also die Vorarbeiten anderer seine Leistungen nicht schmälern konnten.

Kastration des Phallus

Aber in Triest beschäftigte sich Freud nicht nur mit der Wissenschaft. Dem 19-Jährigen ging noch seine Liebe zu Gisela Fluß nach, seine erste überhaupt. Mit Kosenamen nannte er sie „Ichthyosaura“, also „Fischsaurierweibchen“. Gleich nach seiner Ankunft schrieb er an Silberstein, „dass Triest eine sehr schöne Stadt ist“, und abstrahierte von dieser Ichthyosaura, „dass die Bestien sehr schöne Bestien sind“. Aber nur wenige Tage später gibt er den Verdrängungscharakter seiner Arbeit zu erkennen, indem er erwähnt, „wie ich der bestienmordenden Wissenschaft diene“, ein Muster des Triebverzichts, den er in seiner vierjährigen Verlobungszeit wiederholte.

Tatsächlich war Freud von seiner Sexualität gepeinigt. So nahm er bei einem Tagesausflug nach Muggia nur Hebammen und Schwangere war. In Triest war Freud wahrscheinlich sogar noch unaufgeklärt. Mit einer Frau geschlafen hat er zum ersten Mal wohl erst mit dreißig Jahren, in seiner Hochzeitsnacht. Freud, dessen Eltern aus Galizien stammten, unterlag einer äußerst rigiden ostjüdischen Sexualmoral, die nicht nur vor- und außerehelichen Sex verbot, sondern, für Freud in dieser Zeit ungleich wichtiger, strikt auch Masturbation. Die betrieb Freud – seine späteren Texte über Angstneurosen bei enthaltsamen Männern belegen es – unter großer Beschämung, also heftiger Abwehr und Aggression gegen sich selbst. Als „Ursucht“ bezeichnete er sie später.

In Triest bot sich ihm nun eine Möglichkeit zur Verdrängung. Die Beschäftigung mit einem anderen Phallus war ungleich harmloser – mit dem Aal konnte sich Freud offen befassen. Das Sezieren des Aals bedeutet eine Symbolverschiebung, seine Aggressionen lenkte er nun auf ein neues Forschungsobjekt. Und die Kastration, die als Strafe für Onanie drohte, konnte er am Aalphallus selbst vornehmen.

Mehr noch – nach der Ödipustheorie mit Mord am Vater und Heirat der Mutter symbolisierte der Aalphallus nicht nur den eigenen Penis, sondern auch den des Vaters beziehungsweise den Vater selbst. Die tägliche Tötung der Aale bedeutete die Ausschaltung des sexuellen Konkurrenten. Nach der Logik darwinistischer Biologie erhielt der Überlebende damit das Recht auf Fortpflanzung. Das Enthaupten des Vaters bedeutet auch einen Anspruch auf Lohn – die Mutter.

Zwar ist die Allgemeingültigkeit der Theorie vom ödipalen Komplex längst widerlegt, aber biografische Belege für ihr Zustandekommen bei Freud existieren in Hülle und Fülle. Eine Schlüsselrolle nimmt die verloren gegangene Achtung vor seinem Vater ein, die er mit der sagenhaften Geschichte von Ödipus auflud. Nun – der Kontext des Vatermordes ist durch einen Blick auf Freuds Sezieren in Triest und auf eine seiner Schriften noch erweiterbar. Der Aal ist nach den jüdischen Speisevorschriften nicht koscher, darf also nicht verzehrt werden. In seinem Aufsatz „Totem und Tabu“ schreibt Freud aber, dass der Totemismus, ein quasireligiöses System, den Verzehr von tabuisierten Tieren erlaubt, wenn damit Vatermord symbolisiert wurde. „Die Psychoanalyse hat uns verraten, dass das Totemtier wirklich der Ersatz des Vaters ist, und dazu stimmte wohl der Widerspruch, dass es sonst verboten ist, es zu töten“, schreibt Freud. Nur wenn das Totemtier der Vater ist, dürfen die beiden Tabuvorschriften gebrochen werden, „den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen“ – eine präzise Analogie zu „den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weib nahm“.

Und wenn für das Enthaupten des Vaters die Mutter als Lohn vorgesehen war, ließ sich Freuds Lohn für das Enthaupten – diesmal der Aale – präzise benennen. Freud erhielt insgesamt 180 Gulden für seine zwei Monate in Triest, nach Kaufkraft heute rund 1.600 Euro. Davon musste er die Bahnfahrten, Kost und Logis bezahlen. Mit Sicherheit hat er so viel Geld wie möglich seiner Mutter mitgebracht, die unter der Geschäftsuntüchtigkeit ihres Mannes litt. Sie wird den Beitrag ihres Sohnes wohl mit Zuwendung belohnt haben. Und Sigmund nahm auf diese Weise die Vaterrolle des Ernährers der Familie ein.

Träume von Eisenbahnen

Hat Freud immer über Triest geschwiegen? Es ist nicht bekannt, was er seiner Tochter Anna über seine Zeit als Aalforscher erzählte, als sie im März 1913 gemeinsam die Seestadt besuchten. Immerhin war Anna bei dieser Reise mit 17 Jahren ungefähr im gleichen Alter wie ihr Vater vier Jahrzehnte zuvor. Auch die Jahreszeit war dieselbe.

Möglicherweise hat Freud aber auch in seinen Schriften doch einmal diese Zeit erwähnt. „So träumte ich einmal, dass ich mit einem meiner früheren Universitätslehrer in einer Bank sitze, die mitten unter anderen Bänken eine rasch fortschreitende Bewegung erfährt. Es war dies eine Kombination von Hörsaal und Trottoir. Die weitere Verfolgung des Gedankens übergehe ich“, schreibt er 1901 in seinem Aufsatz „Über den Traum“. Freud litt unter einer ausgeprägten Eisenbahnphobie, die ihn vor Reisen tagelang bedrängte und die er selbst auf das Schlüsselerlebnis der kindlichen „Katastrophe“, den Wegzug aus seiner Geburtsstadt Freiberg in Mähren, zurückführte.

Auch für die Reise nach Triest musste Freud die Eisenbahn benutzen. Wenn er nach 25 Jahren von einem „früheren Universitätslehrer“ träumte und dieser Professor ihm offenbar viel bedeutete, kommen nur der Philosoph Franz Brentano, mit dem er sich im Grundstudium beschäftigt hatte, und der Anatom Claus in Betracht. Für Brentano hat Freud keine Reise unternommen, für Claus zwei. Das Trottoir könnte für den lebensweltlichen Aspekt des Aufenthalts an der Adria stehen. Und der Unwille, Einzelheiten über die Deutung des Traums mitzuteilen, entspricht Freuds üblicher Abwehr gegen seine Aalphase.

Mehr noch – gleich im Anschluss schildert Freud einen zweiten Eisenbahntraum: „Ein andermal sitze ich im Waggon und halte auf dem Schoß einen Gegenstand von der Form eines Zylinderhutes, der aber aus durchsichtigem Glas besteht. Die Situation läßt mir sofort das Sprichwort einfallen: Mit dem Hute in der Hand kommt man durchs ganze Land.“

Freud selbst stellte die beiden Eisenbahnträume zueinander. Er deutete den Hut als Sexualsymbol, das er hier mit einem Hinweis auf Masturbation versah, wie auch der Aal auf Onanie verweist. Von seiner Laboratoriumsarbeit war dem Student der Umgang mit Glasinstrumenten vertraut. Und schließlich kam Freud, wie er einige Sätze später schrieb, „auf kurzen Umwegen“ zur Deutung, hier spiele er wohl auf die Erfindung des Glühstrumpfes an. Das mag korrekt sein – weil Freud aber seine Aalforschung strikt abwehrte, könnte er hier eine Erinnerung an seine Triester Zeit einfach übersprungen haben, obgleich seine wissenschaftliche Akkuratesse ihn auch zwang, die Verkürzung zu erwähnen. Im Übrigen hätte Freud seine Aalforschung wohl selbst als „kurzen Umweg“ in seiner akademischen Karriere beschreiben können.

Vielleicht also beruhte auch dieser Traum biografisch und emotional auf der peinigenden Eisenbahnfahrt von Wien nach Triest oder zurück. Dann hätte der Träumer in seinem Wunschgepäck ein Schauglas voller in Alkohol konservierter Aale mitgeführt, die ihm zu diesem Zeitpunkt – noch war unklar, dass er Syrski nicht würde übertrumpfen können – den wissenschaftlichen Durchbruch versprachen.

Wenn Aale lieben

Leider ist ein Brief wohl nicht erhalten, in dem Freuds Verlobte Martha Bernays ihm 1883 den Wandsbeker Markt beschrieb. Dort waren die damals in Hamburg sehr häufigen Aalverkäufer sicherlich ebenfalls anzutreffen. In Freuds überliefertem Antwortbrief mischen sich Bekenntnis zum Triebverzicht, Standesdünkel und Unzufriedenheit: „Du hast ganz recht, es ist nicht schön und erhebend anzuschauen, wie sich das Volk vergnügt. […] Das Gesindel lebt sich aus und wir entbehren. Wir entbehren, … wir heben uns für etwas auf, wissen selbst nicht für was – und diese Gewohnheit der beständigen Unterdrückung natürlicher Triebe gibt uns den Charakter der Verfeinerung. […] [Wir sind] Menschen, die wie jene Asra nur einmal lieben können.“

Freud spielt damit auf ein populäres Gedicht Heinrich Heines an:

Täglich ging die wunderschöne

Sultanstochter auf und nieder

um die Abendzeit am Springbrunn,

wo die weißen Wasser plätschern.

Täglich stand der junge Sklave

um die Abendzeit am Springbrunn,

wo die weißen Wasser plätschern;

täglich ward er bleich und bleicher.

Eines Abends trat die Fürstin

auf ihn zu mit raschen Worten:

„Deinen Namen will ich wissen,

deine Heimath, deine Sippschaft.“

Und der Sklave sprach: „Ich heiße

Mohamet und bin aus Yemmen,

und mein Stamm sind jene Asra,

welche sterben, wenn sie lieben.“

Freud konnte 1883, als er Heine zitierte, noch nicht wissen, dass die Aale unmittelbar nach ihrer Fortpflanzung in der über 6.000 Kilometer entfernten Sargassosee sterben. Aber 1925 schrieb der Naturschriftsteller Carl W. Neumann, als habe er zugleich auf Freuds sexuelle Unwissenheit, den Forscherdrang und das tragische Verhältnis zu Mutter und Vater anspielen wollen: „Wie sich das Laichgeschäft selbst vollzieht, die Liebesorgie der Millionen, bleibt einstweilen noch ein Geheimnis der Aale. Sicher ist nur, […] dass die Eltern, so Mann wie Weib, ihr Liebeswerk durch den Tod besiegeln. Auch Aale sind ‚vom Stamm der Asra, welche sterben, wenn sie lieben‘.“

DIETMAR BARTZ, Jahrgang 1957, ist taz-Meinungsredakteur und Aalforscher. Derzeit arbeitet er an einer kulturhistorischen Studie über den „Aal im Nationalsozialismus“. Eine ausführlichere Fassung des vorliegenden Textes mit Quellenangaben ist zum Selbstkostenpreis als Sonderdruck erhältlich. Bestellungen: sexuaal@taz.de