Das Montagsinterview
„Ich wollte ihm doch gerecht werden“

Eine gute Gerichtszeichnung diffamiert den Angeklagten nicht, sagt sie. Christine Böers weiß, wovon sie redet
FOTO ODER ZEICHNUNG Seit Jahrzehnten zeichnet die Hamburgerin Christine Böer Menschen vor Gericht: den „Baulöwen“ Jürgen Schneider, den Reemtsma-Entführer, die Mutter der verhungerten Jessica. Ein Gespräch über das bedrohte Genre Gerichtszeichnung, den Prozess als Gladiatorenkampf und Zeichnungen, die nicht zu veröffentlichen sind

geboren 1941 in Berlin, Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Kostümmalerin an der Hamburgischen Staatsoper, Lehrbeauftragte für Gestaltung an der FH Hamburg. Arbeitet seit 1985 als Pressezeichnerin und Autorin. Foto: Miguel Ferraz

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Frau Böer, wie sind Sie zur Gerichtszeichnung gekommen?

Christine Böer: Ganz ungeplant. Eine Boulevardzeitung hat mich dorthin geschickt. Ich hatte damals das Glück, die St. Pauli-Mafia mit ihren wechselnden Bärten zu charakterisieren.

Hat es Sie sofort gepackt?

Ich bin ein Mensch, der sehr gerne dramatische Geschichten hört und das Leben ohnehin als leicht explosiv erlebt: diese unsichtbaren Drähte, die unter dem Boden laufen. Ich bin wie ein staunendes Kind.

Unter den Nazis ist die Physiognomik in Verruf geraten. Aber der Laie fragt sich dennoch: Wie viel kann man am Gesicht eines Angeklagten ablesen?

Nicht viel. Ich würde höchstens so weit gehen, dass man Menschen ihre Macht oder Ohnmacht ansehen kann. Ihr ganzes Gehabe, ihre Erscheinung, das Stolzieren oder Schleichen geben Auskunft.

Warum sind Gerichtszeichnungen so selten geworden?

Es ist eine reine Frage des Geldes. Ein Gerichtszeichner, selbst ein schlechter, bekommt immer mehr als ein Fotograf. Es wird also vor oder nach der Verhandlung fotografiert. Deswegen ist die Berichterstattung so farblos – und auch so manipulativ: Ein Foto auf dem Gerichtsflur kann ich stellen.

Warum empfinden die Gerichte die Zeichnung als harmloser?

Ich wirke nicht bedrohlich, ich habe keinen großen Fotoapparat. Und da fängt es dann schon an, dass viele sagen: „Mein Onkel malt auch. Aber in Öl.“ Das macht man sich als Gerichtszeichner zunutze. Man geht in die Tapete über.

Aber dem Porträtierten kommen Sie ja sehr nahe.

Das durch die menschliche Empfindung geprägt Bild ist immer subjektiv. Aber es hat ganz andere Möglichkeiten als das Foto: Es nimmt sich Zeit. Wenn der Zeichner gut ist, beobachtet er Mimik und Gestik über eine längere Zeit. Er kann – und das ist ganz wichtig – weglassen. Und hervorheben, was ihm wichtig erscheint. Er kann mehrere Aspekte einer Person auf ein Bild setzen. Das alles kann das Foto nicht. Ich setze noch Zitate zu meinen Zeichnungen: Damit werden sie zu einem Psychogramm aus Worten und Strichen.

Sie haben gesagt, dass eine misslungene Zeichnung Sie eine Nacht lang wachhalten kann. Wann ist für Sie ein Porträt gescheitert?

Wenn ich einer Person nicht gerecht geworden bin, dann kann das dazu führen, dass ich einen neuen Anlauf nehme. Ich lasse es, wenn es ein Wischi-Waschi-Typ ist, dessen Delikt einem bekanntes Strickmuster folgt. Dann ist derjenige aber auch wenig unterscheidbar. Aber wenn mich ein Figur so sehr beschäftigt, wie der Graffiti-Sprayer „OZ“, der sich sozusagen als Metapher für das ganze Delikt eignet, weil er in seiner ganzen Erscheinung die Flüchtigkeit darstellt, dann setze ich alles daran, das wiederzugeben.

Vermutlich sind es nur die Selbstbewussten unter den Angeklagten, die sich Ihre Bilder hinterher noch angucken.

Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal habe ich das Bedürfnis, dem Angeklagten sein Bildnis zu zeigen. Ich denke, das ist fair. Wie bei dem Halbstarken, der gemordet hat, den ich ohne Gesicht, embryonal in sich verkrochen dargestellt habe.

Wie hat er darauf reagiert?

Nicht spektakulär. Er ist zusammengezuckt und hat leise etwas gemurmelt: „Das bin ich wohl.“

Als Zeichnerin interpretieren Sie – teilen die Gezeichneten stets Ihre Interpretation?

Die Zeichnung beinhaltet Empathie – der kann man sich nicht verschließen – und Anteilnahme. Sie diffamiert nicht. Eine gute Gerichtszeichnung liefert den Angeklagten nicht reißerisch an den Pranger aus – das ist, was die Bild-Zeitung macht. Ich habe mich immer geweigert, für sie zu arbeiten. Und ich bin Gott sei Dank in einer Position, dass ich nicht kriechen muss.

Sind die Prozesse, zu denen die Redaktionen Sie schicken, auch diejenigen, die Sie sich selbst aussuchen würden? Also die prominenten Fälle: Reemtsma-Entführung, der Erpresser Dagobert…

Beim Reemtsma-Prozess war für mich der Aufhänger: Ein Mensch hilft sich selbst. Jemand, der sich über die demütigendsten Bedingungen der Gefangenschaft hinweg geholfen hat, indem er geschrieben hat. Und Dagobert ist für mich das herrliche Beispiel eines Menschen, der sich Geld auf unredliche Weise verschafft hat, aber sich durch das Geld nicht verändern lässt. Er hat während der Verhandlung ja betont: „Herr Richter, dat war für mich ohne schöpferische Herausforderung. Dat hat mich jenervt, dieses viele Geld. Aber haben wollt ich’s doch.“ Aber Sie vergessen die politischen Prozesse.

Als es um die Großen der DDR ging.

Ich bin ein Ost-West-Geschöpf. Ich habe 20 Jahre auf dem Boden der DDR gelebt, bin dann hier rüber gemacht und habe dadurch ein ganz anderes Verständnis auch für die Ost-Seite. Und es war mir ein Bedürfnis, dass nicht nur die DDR-Polit-Mafia, sondern als Gegengewicht auch der CDU-Spendenausschuss gezeigt wird. Mir war aber auch der Prozess gegen den Baulöwen Jürgen Schneider wichtig, das absurde Theater mit den Bankern. „Mein Name ist Hase“, hieß es, nichts gesehen, nichts gehört. Aber Schneider hat sie vorgeführt, wie sie sich nach nichts erkundigt haben, als sie ihm enorme Kredite gaben.

Wie nahe gehen Ihnen die Prozesse, die nicht das Heitere von Dagobert haben? Zum Beispiel in dem Prozess gegen jene Hamburgerin, die ihre Tochter Jessica verhungern ließ?

Ich beobachte mit Schmerzen, dass sich nichts ändert. Die Berichterstattung war derartig vordergründig und auf Tränendrüsen aus in einem Fall, der doch an ganz tiefe Missverhältnisse in unserer Gesellschaft rührt. Es ist ein Fall, der Auskunft gibt über Chancenungleichheit und Unerwünscht-Sein im dritten und vierten Glied. Ich wollte Mutter, Großmutter und Kind zeichnen, um diesen Domino-Effekt zu zeigen. Ich frage mich oft, wie ich Ursachen sichtbar machen kann. Beim Alt-Nazi Engel habe ich ein Foto von ihm als jungen Mann in sein altes, verknorrtes Ewig-Gestriges Gesicht montiert.

Letztendlich gibt es zu dem Jessica-Prozess von Ihnen nur ein Bild, auf dem die Mutter zu sehen ist.

Ich habe angefangen mit dem Kind, ich bin in die Pathologie ins Klinikum Eppendorf gegangen und habe mir das Foto zeigen lassen. Ich habe das Kind aquarelliert, aber als ich fertig war, dachte ich: Das kannst du niemandem zeigen. Es ist zu indiskret. Ich kann es nicht veröffentlichen.

Sie gehen jetzt nur noch zu den Prozessen, die Sie selbst interessieren. Welche sind das?

Das kann ich im Voraus nicht sagen. Ich werde auf jeden Fall zum Prozess gegen die See-Piraten gehen, weil ich sehen will, wie die gucken: Machen sie einen mutigen Eindruck, was treibt sie um?

Zeichnen Sie auch die Opfer?

In dem Fall interessieren sie mich nicht so. Aber mich interessieren die Zuschauer. Ich zeichne oft ins Publikum – das ist genau das, was ich nicht soll. Es interessiert mich brennend: Was kommt an? Wie nehmen die Partei? Gehen Sie auf den weinerlichen Ton ein, den die meisten Medien in ihrer Gerichtsberichterstattung haben?

Oder fordern die Höchststrafe.

Es ist wie im alten Rom: Das Publikum ist zu irrationalen Wendungen in der Lage. Wenn der Gladiator Substanz gezeigt hat, hält es vielleicht den Daumen hoch. Im Prozess gegen Pastor Geyer, der seine Frau getötet hat, gab es eine blinde Lynchstimmung. Aber ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich alle so gerecht vorkommen. Ich habe den Pastor um Erlaubnis gefragt, ob ich ihn in der Pause aus der Nähe zeichnen könnte, weil ich ihn aus der Ferne nie gut sehen konnte. Ich wollte ihm doch gerecht werden, ich wollte nicht in dieses allgemeine Mord-Pastor-Geschrei einstimmen.

Stört es die Zuschauer, wenn Sie sie zeichnen?

Nein, im Gegenteil. Die sind neugierig und wollen hinterher sehen, was ich mache. Ich bin kooperativ, wenn sie sagen: „Die Nase hätte ich ein bisschen größer gemacht.“ Dann sage ich: „Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam machen.“ Ich sehe mich fest – es ist mir wertvoll, wenn jemand völlig unvorbereitet darauf guckt.

Christine Böers Buch „Gezeichnete. Menschen vor Gericht“ ist im Dölling und Galitz Verlag erschienen.

Eine Auswahl ihrer Zeichnungen zeigt bis zum 26. 6. die Hamburger Buchhandlung Sautter+ Lackmann. Am 5. 10. eröffnet dann eine Ausstellung im Hamburger Rathaus