Willkommen und Abschied

LITERATUR Einer der wichtigsten deutschen Verlage bekommt einen neuen Chef. Jo Lendle ersetzt die Legende Michael Krüger. Es geht um viel mehr als einen Personalwechsel

■ Der Alte: Michael Krüger, 69, wuchs in Berlin auf, machte eine Lehre als Buchhändler und studierte Philosophie. 1968 begann er seine Karriere als Lektor beim Münchner Carl Hanser Verlag. 1995 wurde er dort zum Verleger. Er prägte das Programm und landete Bestseller wie „Der Name der Rose“ oder „Sophies Welt“. Ende 2013 hört er als „letzter Verleger alter Schule“ (Süddeutsche) auf.

■ Der Neue: Jo Lendle, 45, wuchs in Göttingen auf und studierte in Hildesheim und am Literaturinstitut Leipzig, das auch Autorinnen wie Juli Zeh oder Clemens Meyer hervorgebracht hat. Wie auch Krüger schreibt Lendle Romane. 1997 wurde er Lektor beim DuMont-Verlag in Köln, 2010 Geschäftsführer. Zu DuMonts Autoren zählt etwa Haruki Murakami. 2014 wird Lendle Chef bei Hanser.

VON DIRK KNIPPHALS

Dies ist eine Geschichte über den Strukturwandel in der deutschen Verlagsszene unter besonderer Berücksichtigung des Generationswechsels beim sehr wichtigen Hanser-Verlag – und eigentlich wäre es ganz schön, wenn man diesen Text auf drei Ebenen gleichzeitig anfangen lassen könnte. Aber das geht eben nicht.

Auf der ersten Ebene müsste es – selbstverständlich – um die Digitalisierung gehen und um ihre Auswirkungen auf den Buchmarkt. Das Lesen und das Schreiben, das Bücherkaufen, Büchermachen und die Art und Weise, über Bücher zu reden: Nichts wird mehr so sein, wie es ist. E-Books und Onlinehandel, Leserkommentare auf Amazon und neue Vertriebswege für Autoren – das ist längst dabei, alles zu ändern. So abrupt wie in Großbritannien scheint es hierzulande zwar nicht zu gehen. Den britischen Markt haben die E-Books innerhalb von zwei Jahren zum Großteil übernommen. Aber klar ist: Ein Übergang ist es. Das macht nervös.

Auf der zweiten Ebene sollte man die zentralen Protagonisten des aktuellen Generationswechsels vorstellen. Auf der einen Seite ist das Michael Krüger. Irgendwo: längst Legende. Manche sagen: der – nachdem der Suhrkamp-Patriarch Siegfried Unseld nun auch schon seit elf Jahren tot ist – letzte auratische Verleger Deutschlands. Auf jeden Fall ist Michael Krüger diejenige Verlegerfigur, die idealtypisch für alles steht, was Verleger im bildungsbürgerlichen Sinn können sollten: den literarischen Geist verkörpern. Dabei gute Bilanzen vorweisen. Und außerdem noch Anerkennung über den Literaturbetrieb hinaus auf sich und seinen Verlag ziehen.

Michael Krüger kann das alles. Was sich nicht zuletzt in den ausgedehnten Michael-Krüger-Festspielen äußert, die derzeit stattfinden. Empfänge, Einladungen, als Höhepunkt ein bunter Abend zu seinen Ehren beim Bundespräsidenten.

Große Ehre also. Aber auch ein großer Abschied. Am Montag kommender Woche wird Krüger siebzig. Auch zu diesem Anlass gibt es ein großes Fest. Dann aber wird er seinen Schreibtisch in der Verlagsvilla in München-Bogenhausen räumen. Oder eher: räumen müssen.

Die Inhaber des Verlags haben beschlossen, dass es nun Zeit für eine Verjüngung auf dem Chefposten ist. Hanser ist eines der letzten mittelständischen Familienunternehmen in der deutschen Verlagsszene, viele Traditionshäuser sind längst Teil von Ketten oder Konzernen wie Bertelsmann und Holtzbrinck.

Zwei Städte sagen alles: Hildesheim und Leipzig

Alles in allem bedeutet das nichts anderes als das Ende einer Ära. Mit großen Auswirkungen auf den Literaturmarkt insgesamt. Schließlich steht Hanser für etwas. Gefühlt zwei Drittel aller Literaturnobelpreisträger veröffentlichen hier. Lyrik wird noch groß geschrieben. Hanser macht Bücher, die Buchhändler gern in die erste Reihe stellen. Weil sie Prestige und oft auch noch Umsatz bringen. Die Frage ist, wie es mit diesem Programm weitergehen soll.

Damit kommt, auf der anderen Seite, Jo Lendle ins Spiel. 1968 geboren ist er jetzt auch nicht mehr so jung. Mitte Vierzig, da hat man schon einiges hinter sich. Aber Lendle ist damit eben auch ein Vierteljahrhundert jünger als Krüger. Während Krüger ein tiefes, manchmal leicht bellendes Patriarchenlachen hat, kommt bei Lendle kaum ein Zeitungsporträt ohne die Beschreibung seines jugendlichen, oft verschmitzten Lachens aus.

Der Generationswechsel lässt sich noch deutlicher anhand von zwei Städtenamen klarmachen, die in der Literaturszene emotional aufgeladen sind: Hildesheim und Leipzig. Wer derzeit Mitte, Ende zwanzig ist und Schriftsteller werden möchte, geht inzwischen an die dort beheimateten Schreibschulen. Trendscouts, Lektoren, alle gucken auf die dortigen Abschlussjahrgänge.

Von den älteren Autoren und Kritikern werden sie aber immer noch beargwöhnt, nicht nur wegen der Konkurrenz um Preise, um Fördergelder, auch prinzipiell. Deutsche Schriftsteller haben aus innerer Notwendigkeit zu schreiben und nicht aus dem Geiste eines Creative-writing-Seminars, so eine weit verbreitete Meinung, die sich der Unterstützung Michael Krügers stets sicher sein konnte.

Naja, und Jo Lendle hat gleich in beiden Städten studiert: in Hildesheim Kulturwissenschaften, in Leipzig am Literaturinstitut. Größer könnte der Abstand zu Michael Krüger nicht sein, der literarisch in größeren Zusammenhängen denkt – der französische Surrealismus, der große amerikanische Roman, die Klassiker der Moderne.

Inzwischen hat sich Jo Lendle aber auch verlegerischen Respekt erworben. Seit 2010 ist er verlegerischer Geschäftsführer beim DuMont Verlag. Als der Anruf von den Hanser-Inhabern kam, war er gerade erkennbar dabei, DuMont zu einer vielleicht kleinen, aber auch feinen Adresse in der deutschen Literaturverlagsszene zu machen. Ihm gelang es, hochgehandelte Amerikaner wie Chad Harbach ans Kölner Haus zu holen. Als vor knapp einem Jahr – ausgerechnet am Tag der DuMont-Weihnachtsfeier – bekannt wurde, dass Jo Lendle zu Hanser geht, sollen Tränen geflossen sein.

In dem undankbaren Wettbewerb, wer souveräner mit der Situation umgeht, dass der Wechsel auf dem Hanser-Chefsessel mit einem Jahr Vorlauf bekanntgegeben wurde, sah Lendle um einiges besser aus als Krüger. Bereits seit März bereitet er sich intensiv auf die Stelle vor. Über seinen Vorgänger hört man von ihm nur Respektvolles, mit programmatischen Verkündungen hält er sich klug zurück.

Das spricht für die kommunikative Intelligenz Lendles, dem es auch im persönlichen Gespräch oft gelingt, das Reden in Gang zu halten, ohne viel von sich preiszugeben. Die Zeit bat ihn zur letzten Buchmesse als Vertreter einer neuen Verlegergeneration mit anderen zum Roundtablegespräch. Dabei gelang es ihm hervorragend, seine Antworten mit soviel Charme einzunebeln, dass gar nicht groß auffiel, dass er situationsbedingt nur Allgemeinplätze von sich gab. Lendle: „Das Buch muss Teil der Öffentlichkeit bleiben.“ Aha.

Als Verleger muss man auch einmal Selbstverständlichkeiten so sagen können, dass sie immer noch bedeutsam klingen.

Michael Krüger dagegen vermeidet es, den Namen seines Nachfolgers nur in den Mund zu nehmen. In einem Interview nannte er ihn „einen jungen, gut aussehenden, gebildeten und freundlichen Menschen“. Innerhalb der Verlagsszene, in der der Ruf, den man hat, ein wichtiges kulturelles Kapital darstellt, ist das fast, als hätte er ihm ein Bein gestellt. Fehlte nur noch, dass er ihn Bübchen genannt hätte.

Auf gut Englisch gesagt: Krüger, sowieso oft melancholisch umweht, ist auf eine irgendwie knorrige Art pissed.

So. Wer mag, kann nun die erste und die zweite Ebene zusammennehmen. Er kann den Generationswechsel bei Hanser mit dem Strukturwandel der Branche kurzschließen und die ganze Geschichte vor dem Hintergrund der Digitalisierung erzählen. Gute Gründe dafür gibt es. Denn auch wenn Michael Krüger als Verlagsgeschäftsführer klug genug war, sich dem elektronischen Buchzeitalter nicht zu verschließen und auch wenn es auf YouTube eine geradezu rührende Serie von Videoclips gibt, in denen er auf seine Lieblingsautoren hinweist oder literarische Motive erklärt – seine Ressentiments gegenüber den neuen Medien hat er nie verhehlt.

Am lustigsten war das auf der Buchmesse 2012. Auf einem Empfang war Krüger gebucht, um über die Zukunft des Buchmarkts zu reden. Er hat aber eine Dreiviertelstunde nur darüber geredet, dass früher alles besser gewesen sei. Die Literatur inspirierter. Das Lesepublikum geistvoller. Die Buchmessenpartys wilder. Ein Autor, der gerade daran sitzt, einen Internetroman zu schreiben und dabei die Klischeefigur eines noch in Printzeiten geprägten Buchmenschen braucht, der das Digitale verdammt und die Gegenwart gleich mit, hätte diese Rede eins zu eins übernehmen können.

Da gab es viel Aufregung, als Jo Lendle sagte: „Verlage sind schon heute definitiv nicht mehr nötig“

So ein Autor müsste Krüger in der nächsten Szene aber auch auf einem honorigen Literaturempfang auf dem Boden sitzend zeichnen, intensiv ins Gespräch vertieft. Auch das kommt vor.

Jo Lendle dagegen kann Internet, ist auf Facebook und findet E-Books weder gut noch schlecht: „Sie sind vor allem da, wie ein neuer Mitbewohner.“ Die Inhaber von Hanser konnten umso überzeugter pressemitteilen lassen: „Mit Jo Lendle sind die Weichen für die Zukunft der Hanser Literaturverlage richtungsweisend gestellt.“ Offenbar sehen sie in Lendle einen 25 Jahre jüngeren Krüger mit Internet-Anschluss.

Aber damit ist dieser Generationswechsel längst noch nicht auserzählt. Und ebenso wenig der Umbruch in Verlagsszene und Literaturlandschaft. Es gibt eben auch noch eine dritte Ebene, allerdings ist sie schwer zu fassen. Es ist die Ebene der Wallungswerte, der Vorstellungen, die mitschwingen, wenn man so ein abstraktes Konzept wie Strukturwandel denkt.

Gerade deutsche Leser sind weiterhin in vielem konservativ. Sie wollen über Bücher Teilhabe an der Welt der Bildung und des Geistes. Gerade Hanser hat dieses Bedürfnis erfolgreich bedient, mit Rüdiger Safranskis Bestsellerbiografien etwa, zuletzt über Goethe, mit Neuübersetzungen der Tolstoi-Romane oder auch, ein überraschender Verkaufserfolg übrigens, der Gedichte von Emily Dickinson, der amerikanischen Lyrikerin aus dem 19. Jahrhundert.

Der deutsche Buchmarkt ist außerdem eng mit den Identitäten vieler Menschen verknüpft. Irgendetwas mit Büchern machen, das war für Generationen von Buchhändlerinnen und Bibliothekaren ein Lebensprojekt, und ist es immer noch.

Das alles spielt in diese Geschichte mit hinein. Als Verleger in Deutschland ist man immer auch die Zentralfigur eines kollektiven Traumes: dem, über Bücher dem üblichen Geschacher der Arbeitswelt entkommen zu können und sich mit dem Eigentlichen und dem Wesentlichen zu beschäftigen.

Michael Krüger lebt diesen Traum vor. Man muss nur einmal in seinem Verlegerzimmer gewesen sein. Zwischen den branchenüblich beeindruckenden Stapeln von Romanausdrucken liegen da Briefe von berühmten Autoren. Die Unterschrift Hans Magnus Enzensbergers erhascht der Besucherblick schnell in den Gesprächspausen, in denen Krüger sich eine Zigarette anzündet. Bilder. Coverausdrucke. Dieses Zimmer ist so etwas wie das Zentrum eines Spinnennetzes, das ein eigenes Reich der Literatur durchspannt. Und tippt man Michael Krüger, seinen Bewohner, einmal gesprächsweise an, erhält man aus dem Stehgreif einen Einführungskurs in moderne französische Lyrik oder den Einfluss des großen US-Erzählers William Faulkner auf die lesehungrige deutsche Nachkriegsgeneration.

In solchen Momenten versteht man seine Sorge, dass all diese Autorenkontakte und die in schönen Ausgaben geronnenen Leseerfahrungen, dass sein ganzes schönes Reich, das er ja nicht nur für sich aufgebaut hat, sondern für die Literatur, einfach für überflüssig erklärt wird.

Michael Krüger schreibt selbst Romane und Lyrik. In seinem vor einigen Wochen erschienenen Band findet sich in einem Peter Handke zum Siebzigsten gewidmeten Gedicht mit dem Titel „Was noch zu tun ist“ der Vers: „dem Staunen eine Gnadenfrist geben“. Schön gesagt. Es bedeutet auch: Solche poetischen, genuin literarischen Tätigkeiten wie das Staunen sieht er verschwinden.

Da gab es natürlich viel Aufregung in der Branche, als Jo Lendle mitten hinein in die Gewöhnungsphase rund um diesen Chefwechsel mit dem Satz zitiert wurde: „Verlage sind schon heute definitiv nicht mehr nötig.“ Er hat diesen Satz tatsächlich gesagt, in einem Vortrag, den er auf einer Veranstaltung des Studiengangs Kreatives Schreiben in Hildesheim hielt, ausgerechnet. Hält Lendle also Verlage, wie Krüger einen geprägt hat, längst für überflüssig? Natürlich nicht.

Aber bevor man das Missverständnis aufklärt, sollte man noch einen Moment darüber nachdenken, wie es überhaupt möglich sein kann, zu glauben, dass ein neuer Verleger eine Institution wie den Hanser-Verlag für überflüssig halten könnte. Es sagt viel über die Angst, die im Literaturbetrieb herrscht.

Diese Angst ist nicht ganz unberechtigt. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen bekleckert sich – Kulturauftrag hin oder her – bei der Literaturpräsentation zur Zeit nicht gerade mit Ruhm. Schriftsteller werden oft als Promis oder als Kreativitätsdarsteller vorgeführt. Vor zehn Jahren war es mal Mode, McKinsey-Berater durch Traditionsverlage zu hetzen; die Erfahrungen sind noch frisch. Die Idee, die intellektuelle Aura der guten, alten Vor-Internet-Zeit einfach zu konservieren, hat sich bei Verlagen wie Suhrkamp aber auch nicht als tragfähig erwiesen – Konservieren geht in geistigen Bereichen sowieso nie gut. Und die geneigte Leserschaft erweist sich als launisch. Landet ein Autor einen Bestseller, heißt das noch lange nicht, dass auch das nächste Werk wieder ein Bestseller wird.

Vom Internet also mal ganz abgesehen: Verleger müssen überzeugende Ideen haben, wie man die gegenwärtige Situation als Herausforderung begreifen kann. Die bildungsbürgerlichen Milieus weichen auf. In ihrer harschen, ausgrenzenden Form möchte man sie sich auch nicht zurückwünschen. Mit Klassikerlektüre bewies man einst Bürgerlichkeit, während Comics und Unterhaltungsliteratur als Schund für Proleten galten.

Und während viele Jahre ein Ende der Literatur prognostiziert wurde, hat man derzeit eher mit einem Überangebot zu kämpfen. Gerade hat man die dicken Bolaňos hinter sich, muss man, um mitreden zu können, schon David Foster Wallace lesen. Es gibt für gegenwärtige Verleger einfach mehr zu tun, als auf eine Gnadenfrist zu hoffen.

Wer den Hildesheimer Vortrag Jo Lendles nun tatsächlich gelesen hat (seine Notizen dazu finden sich unter www.literaturcafe.de), konnte feststellen, dass eine Art zukunftsoffener Selbstsicherheit aus seinen Ausführungen spricht. Zunächst zeigt er den Autoren auf, was sie inzwischen alles auch ohne große Verlage machen können: den Vertrieb über digitale Plattformen organisieren, Aufmerksamkeit über soziale Netzwerke generieren, das Lektorat freien Lektoren übertragen. „Im digitalen Schlaraffenland“, sagte Lendle, „ist jeder Autor sein eigener Lektor, Setzer, Gestalter, Booker, Marketingchef, womöglich sogar sein eigener Rezensent – oder er kauft sich diese Fertigkeiten dazu.“ Insofern sind Verlage tatsächlich irgendwo überflüssig.

Die Dichter bauen Luftschlösser, die Leser bewohnen sie, und die Verleger kassieren die Miete

MAXIM GORKI, RUSSISCHER SCHRIFTSTELLER

Der Verleger möchte Literatur bringen, die in unser Bewusstsein dringt und dies zu verändern sucht, Literatur, die stärkt, gerade wenn sie beunruhigt

SIEGFRIED UNSELD, SUHRKAMP-VERLAG

Dem Publikum neue Werte aufzudrängen, die es nicht will, ist die wichtigste und schönste Mission des Verlegers

SAMUEL FISCHER, S.FISCHER-VERLAG

Gleichzeitig flicht Lendle in den Vortrag ein, was eben doch nur ein Verlag bieten kann: Zunächst einmal wäre da die Arbeitsteilung, die Situation, dass ein Autor sich ganz auf sein Schreiben konzentrieren kann. Darüber hinaus aber auch: für die Autoren ein „Dazugehören“ organisieren, ihnen eine Aufnahme in ein Programm, eine Institution bieten.

Es ist naiv anzunehmen, dass Literatur nur aus einzelnen Büchern besteht. Sie besteht aus Kraftzentren und Traditionen, aus langsam aufgebauten Autorenkarrieren und Nähe- sowie Abstoßungsbeziehungen zwischen einzelnen Schreibansätzen. Die Selbstsicherheit, die man aus dem Vortrag herauslesen kann, fußt auf der Überzeugung, dass sich diese untergründigen Linien auch in Internetzeiten durchsetzen werden.

Der Glaube an die Gemeinsamkeit

Die Traditionsverlage, sagt Lendle, verlieren ihr Torhütermonopol. Aber sie „glauben“ an zwei Dinge: „Gemeinsamkeit“ und „Auswahl“. Er verwendet dabei tatsächlich dieses auf den ersten Blick etwas merkwürdige Wort „glauben“. Können Verlage glauben? Egal. Lendle vermeidet damit kulturkritische Wendungen wie die, dass die Gesellschaft oder wahlweise auch das Abendland untergehen werden, sobald Verlage keine Gemeinsamkeiten und Auswahl mehr herstellen können.

Die Wortwahl hat aber auch einen harten Kern. Im Grunde sagt Lendle hier, dass man als Verleger immer eine Art Wette eingehen muss. Man muss darauf setzen, dass es unter Autoren und natürlich auch unter den Lesern weiterhin das Bedürfnis gibt, gewissermaßen feste Beziehungen untereinander einzugehen und auf irgendeine Weise etwa zwischen hoher Literatur und Gebrauchsliteratur zu unterscheiden. Und man muss darauf setzen, dass die Auswahl der Traditionsverlage weiterhin einleuchtende Orientierungen innerhalb des unübersehbaren Leseangebots bietet. Ob das tatsächlich gelingt, kann auch Lendle nicht vorhersagen. Er will sich halt bemühen. Und fügt so zum Schluss des Vortrags noch einen interessanten Satz an: „Wir werden uns anstrengen müssen.“ Er stellt sich eher auf eine kleinteilige verlegerische Sisyphosarbeit mit langem Atem ein als auf große programmatische Würfe.

Es lohnt sich, von diesem Punkt aus noch einmal auf frühere Fotos, die Michael Krüger zeigen, zurückzugucken. Lange Jahre hatte Michael Krüger die Angewohnheit, zur Entspannung Kopfstände zu machen, auch auf Schreibtischen zum Beispiel. Und so finden sich von ihm lustige Kopfstandfotos. Auf einem anderen Bild sieht man ihn in modischen Turnschuhen im Literarischen Colloquium Berlin lässig an eine Wand gelehnt stehen, lange bevor Joschka Fischer als hessischer Umweltminister den Turnschuh an sich salonfähig machte – an diesem Ort am Berliner Wannsee hat Krüger vor drei, vier Jahrzehnten eine Vielzahl der Lyriker kennengelernt, die er später verlegen sollte.

Neben dem Spaß bieten diese Fotos auch eine Erkenntnis. Man wird als auratischer Verleger keineswegs geboren, sondern man muss sich diesen Status allmählich erwerben. Durch Leidenschaft für die Literatur. Aber mindestens so sehr durch permanentes Networking, das Krüger einst im Literarischen Colloquium so intensiv betrieben hat, wie es Lendle heute woanders tut. Vielleicht sind sie sich auf ihre Art ähnlicher, als man denkt.

Mal sehen, auf was für Fotos von Jo Lendle man in dreißig Jahren zurückblicken wird.

 Dirk Knipphals, 50, ist Literaturredakteur der taz. Er liest Bücher auf Kindle, iPad oder Papier