Der Bahnhof kommt in Fahrt

Eine Woche nach Eröffnung erobern die Reisenden den neuen Hauptbahnhof. Bis die Reisemaschine reibungslos läuft, muss sich noch einiges fügen. Was bleibt: das Staunen über den gewaltigen Raum

von Ulrich Schulte

Der Hauptbahnhof brummt. Wer es nicht glaubt, muss sich nur ein paar Minuten neben den netten Herrn stellen, der zur Glatze weißes Hemd und rote Fliege trägt. Im Sekundentakt winkt er Männer vorbei, alte, junge, die meisten mit gequälter Miene, und redet ohne Pause: „Komm’se, komm’se zu mir, ick wechsel Ihnen, 80 Cent, so, 20 zurück, bitteschön – was meinen Sie, was hier los ist – hierher, jawoll, Tasche könn’se stehen lassen – ich komm nicht zum Essen, nicht zum Rauchen, nix – he, junger Mann, Moooment, 80 Cent!“

Der Hauptbahnhof ist im Alltag angekommen. Auf der Herrentoilette der Renommierstation, die die Bahn vor einer Woche eröffnet hat, herrscht Hochbetrieb. Weil das Drehkreuz den Geist aufgegeben hat, wird erst einmal per Hand kassiert. Die Schaulustigen, die anfänglich dominierten, werden weniger, die Reisenden erobern sich ihr ureigenes Gebiet. Wenn man sich dem Glasbau vom Kanzleramt aus nähert, sieht man das Gewimmel schon von weitem durch die grünlichen Scheiben.

Gleich hinterm Eingang sitzt Susanne Wedemeier an einem Infoschalter, der wie ein Riesenfußball aussieht. Die Kundenbetreuerin, die vorher am Zoo arbeitete, sprüht vor guter Laune: „Die Zeit rennt, die Schichten gehen unglaublich schnell zu Ende.“ Sie müsse mehr und intensiver erklären als früher, sagt sie. Der Bahnhof mit seinen fünf Ebenen, seinem Wirrwarr von Rolltreppen und Fahrstühlen will verstanden werden.

Ein älterer Mann fragt, wo er die Schließfächer findet. „Es gibt keine mehr“, sagt Wedemeier. „Gehen Sie bitte zur Gepäckaufbewahrung, einfach die Treppe hoch.“ Schließfächer hält die Bahn für ein Sicherheitsrisiko, im Gepäckcenter wird jeder Koffer durchleuchtet. Die Bahn prüft auch, ob sich eine zweite Toilette einbauen lässt. Der Bahnhof hat eben noch Kinderkrankheiten, oder, wie Bahnchef Hartmut Mehdorn sagt: Es fehlt der „Feinschliff“. „Die Planer haben vergessen, dass ein Bahnhof keine Kathedrale ist, sondern ein funktionaler Bau“, sagt ein Bahnmitarbeiter, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er beklagt fehlende Wegweiser zu den Bussen und Taxis, zu wenig Abfahrtspläne, auch die zentrale elektronische Anzeigetafel sei zu klein. „Die Architektur bewundern die meisten, fragen dann aber nach: Wo hole ich die Oma ab?“ Selbst die lichten Höhen haben Nachteile. Er habe schon Fahrgästen mit Höhenangst den Weg über massive Treppen weisen müssen, fernab der gläsernen Balustraden.

Die Berliner reagieren auf die kleinen Mängel wie immer – erst mit Nörgelei, dann mit Pragmatismus. Zwei weißhaarige Frauen beäugen kritisch, wie einer der Panoramaaufzüge langsam zu ihnen hinunterschwebt, vorsichtig steigen sie zu. Eine sanfte Stimme sagt den „Übergang zur U-Bahn“ an. „Gibt’s doch noch gar nicht“, sagt die eine. „Hier dauert eben alles etwas länger“, die andere. „So, hier dürfte der jetzt eigentlich nicht halten.“ „Macht er aber doch.“ Die Kritik bereitet ihnen ebenso viel Spaß wie das Fahren, zweimal lassen sie sich durch die Innereien des Raumschiffs bis ganz nach oben fahren, wo die S-Bahnen auf der Ost-West-Trasse halten.

Die Begeisterung für den neuen Bahnhof überwiegt. In den weiten Hallen entdecken viele den Charme, den Wartezeit haben kann. Während sie sonst in Zeitungen starren, lehnen sie sich jetzt an die Holzbrüstungen und schauen. Gedankenverloren. Minutenlang. Es würden Menschen anreisen, nur um die Architektur zu sehen, hatte die Bahn prognostiziert. Sie hat Recht behalten. Klaus Loll kneift hinter seiner Kamera das Auge zusammen. Sonnenstrahlen brechen sich in Regentropfen, die sich hoch über ihm auf Glasscheiben gesammelt haben. „Fantastisch. Der Bau ist einfach beeindruckend“, sagt er. Seine Frau Hildegard und er waren an der Ostsee und haben auf der Rückreise ins Rheinland eigens einen Abstecher nach Berlin gemacht. 300.000 Menschen sollen täglich am Bahnhof an- oder abreisen und einkaufen, hofft die Bahn – doppelt so viele wie am Bahnhof Zoo. Wie riesig die Station ist, zeigt sich, wenn man sich an einem ganz normalen Nachmittag an den Bahnsteig 6 stellt, kurz bevor der Regionalexpress nach Schwedt einfährt. Der nächste Mensch steht 50 Meter weiter, nur die Rolltreppe surrt leise, am anderen Ende des Bahnsteigs leuchtet eine Ampel schwach durch den Dunst. Im Bahnhof ist noch viel Platz.