Die Suche nach dem Urknall

Nach mehrjährigem Umbau zeigt das Deutsche Historische Museum in seiner neu geordneten Sammlung einen Parcours durch 2.000 Jahre „deutscher“ Geschichte. Ein neuer Nationalismus wird mit der Präsentation nicht gefördert, für konkurrierende Geschichtsinterpretationen bleibt aber auch kein Platz

Es sind insbesondere Exponate der Nazizeit, etwa Hitlers monströser Schreibtisch aus der Reichskanzlei, die „zu uns sprechen“

VON CHRISTIAN SEMLER

„Deutsche(r), wer bist du?“ Diese hochnotpeinliche Frage lässt sich leicht in „Deutsche(r), wer warst du“ transformieren, womit Historiker wie Museumsleute auf den Plan treten. Heute eröffnet das Deutsche Historische Museum neu, um dem sinnhungrigen Publikum nach mehrjähriger Vorbereitung die Dauerausstellung „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen“ zu präsentieren. Ein hauptstädtisches Unternehmen, einzig in seiner Art und von staatspolitischer Bedeutung, wie die Anwesenheit der Kanzlerin bei der offiziellen Eröffnungsfeier zeigte.

Im Berliner Zeughaus, dem Ausstellungsort, kann jetzt der Besucher auf zweierlei Art seinen historischen Bedürfnissen nachkommen. Entweder er folgt dem Hauptparcours entlang den Seiten des Zeughaus-Innenhofs, eilt vom Ober- zum Erdgeschoss, immer der Chronologie nach, die zwei Jahrtausende umspannt. Oder er vertieft sich in die Seitenabzweigungen, die thematisch gegliedert sind, konsultiert einige der 148 Medienstationen, besteigt die drei der Geisteswelt gewidmeten Emporen – um endlich ermattet wieder in der Gegenwart zu landen. Schließlich hatten die Ausstellungsmacher 8.000 Quadratmeter für ebenso viele Exponate zur Verfügung.

Diese Verschränkung von Zeitlauf und themenspezifischer Präsentation bildet das Prinzip der Ausstellung. Das Zeughaus, eines der raren Beispiele großartiger Barockarchitektur in Berlin, ist selbst ein Sinnbild für die widerspruchsreiche historische Entwicklung, dem sich stellen muss, wer deutsche Geschichte visualisieren will. Das Gebäude diente als Waffenarsenal der brandenburgisch-preußischen Armee, seit den siegreichen Kriegen des 19. Jahrhunderts als Ausstellungsort für erbeutete Trophäen, dann als Prunk- und Protzstätte des wilhelminischen Militarismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee leer geräumt, wurde hier schließlich das Historische Museum der DDR installiert. Vom Glanz der Waffen blieb nichts übrig: Schlüters Kriegermasken, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, künden mehr vom Schrecken als vom Kriegsruhm.

Noch zu DDR-Zeiten wurde das Zeughaus von den wilhelminischen Verunzierungen befreit. Durch die konstruktiven Arbeiten seit den 90er-Jahren wurden sieben Meter hohe, durchgängige Hallen um den Lichthof herum geschaffen – ideale Voraussetzungen für die Präsentation. Auf dieser Fläche wurden die Raumkörper, Vitrinen und Wandflächen für die ständige Ausstellung untergebracht.

Trotz des riesigen Platzangebots wirkt die Ausstellung jedoch gedrängt. Die Exponate sind fast durchgängig in massiven Vitrinen untergebracht, statt Transparenz ist das Ergebnis oft Abschottung. Die Aura, die gerade von den bedeutenden originalen Artefakten ausgeht, wird durch diese aquariumsähnliche Präsentation gemindert. Diejenigen Wände, in denen, Schaukästen gleich, kleinere Exponate untergebracht sind, wirken manchmal wie Einbauküchen in einem neureichen Haushalt. Diese Tendenz arbeitet sehr stark gegen den Wunsch der Ausstellungsmacher, Exponaten nicht nur die Funktion historischer Illustration zuzuweisen, sondern sie als eigenständige historische Zeichen quasi nonverbal miteinander in Beziehung zu setzen.

Die Hauptbefürchtung, das Projekt befördere einen neuen Nationalismus durch aufgezwungene Identifikation mit der deutschen Geschichte, erweist sich als grundlos. Die Kuratoren haben die Linie, deutsche im Kontext europäischer Geschichte zu behandeln, strikt durchgehalten. Im Zeichen der preußisch-deutschen Nationalstaatsbildung hatte sich einst die historische Erzählung – in Geschichtswerken, in Museen – einer nationalen Entelechie gefügt. Zu DDR-Zeiten trat an die Stelle der Nation der Arbeiter-und-Bauernstaat, dem die revolutionären Erhebungen der deutschen Geschichte ebenso als Vorläufer zugerechnet wurden wie das „humanistische Erbe“. Nach 1990 sah es eine Zeit lang aus, als ob die Einigung Europas zum eigentlichen Fluchtpunkt der historischen Entwicklung des vereinten Deutschlands stilisiert würde.

Von solchen Absichten ist in der ständigen Ausstellung explizit nicht die Rede. Die Ausstellungsmacher entwickeln aus dem historischen Material heraus die europäischen Bezüge, weshalb etwa ein Riesenbildnis des französischen Königs Ludwig XIV. (er wollte immerhin deutscher Kaiser werden) hier ebenso figuriert wie höfische Exponate, die die kulturelle Hegemonie Frankreichs an den absolutistischen Fürstenhöfen Deutschlands nachweisen.

Das Ziel, in der Ausstellung selbst konkurrierende Geschichtsinterpretationen aufzuzeigen, war allerdings konzeptionell nicht einlösbar. Denn eine solche Vorgehensweise hätte vorausgesetzt, dass zentrale Begriffe wie der der Nation in ihrem historischen Wandel „gezeigt“ würden. Erst dann hätte der Raum geöffnet werden können für die Darstellung historiografischer Kontroversen. So war es nicht möglich, selbst bei zentralen Figuren wie Friedrich II. von Preußen das wechselvolle Bild dieses Herrschers in der Geschichte aufzuhellen.

In der Rede von den 2.000 Jahren deutscher Geschichte zeigt sich sogar eine erstaunliche Naivität gegenüber den ideologischen, den geschichtspolitischen Fallstricken der Chronologie. Was bitte ist „deutsch“ am Kampf Herrmann des Cheruskers gegen die Römer? Es gehört mittlerweile zum historischen Basiswissen, dass der Begriff „deutsch“ dem Mittelalter angehört, ursprünglich keine Stammes- oder Staatszugehörigkeit anzeigte, sondern die Volkssprache – im Gegensatz zum Lateinischen. Erst im späten Mittelalter wurde „deutsch“ zu einer Nationsbezeichnung, wobei „Nation“ etwas anderes meinte als der neuzeitliche Nationsbegriff. Der verantwortliche Museumsmann für diesen Ausstellungsteil betonte im Gespräch, hier ginge es nicht um „deutsche Geschichte“, sondern um Vorbedingungen ihrer späteren Entwicklung. Warum dann „2.000 Jahre deutsche Geschichte“, wo selbst die nationalistische Geschichtsschreibung die deutsche Geschichte erst mit dem Sachsenkaiser Heinrich I., also um 900 einsetzen lässt? Von der „Herrmannsschlacht“ als „Urknall“ deutscher Geschichte zu sprechen, wie der DHM-Direktor Ottomeyer, verrät ein reichlich seltsames Geschichtsverständnis.

Das Mittelalter ist in der Ausstellung schwach bestückt. Das hat seinen Grund in der Entwicklung der Territorialfürstentümer, in der früh einsetzenden Sammeltätigkeit der Landesfürsten, schließlich darin, dass seit dem 15. Jahrhundert die Habsburger den Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches“ stellten und Wien so zur wichtigsten kaiserlichen „Sammlerstelle“ wurde. Dennoch hätte man es sich gewünscht, mehr über die Dualismen (Staat/Kirche, partikulare/zentrale Gewalten) zu erfahren, die das alte Reich prägten. Sie gingen verwandelt in unser föderatives Staatsverständnis ein.

Zur frühen Neuzeit versammelt die Ausstellung eine Reihe spektakulärer Stücke: das hinreißende, in den „Türkenkriegen“ eroberte Prachtzelt; oder die „Türkenuhr“, die Kaiser Rudolf II. dem Sultan zum Geschenk machte. Eine spannende Konstellation, zeigt sie doch das Ineinander von friedlicher Geschenkdiplomatie, kulturellen Einflüssen und gleichzeitigen schroffen militärischen Auseinandersetzungen.

Der Schwerpunkt liegt auf dem 20. Jahrhundert und dort insbesondere auf der Nazizeit. Hier finden wir außer einer reichen Plakatdokumentation, Schriftstücken und Fotos auch überaus bedeutsame Exponate, die „zu uns sprechen“. Hervorgehoben sei nur der monströse Schreibtisch Hitlers aus der Reichskanzlei, dann das ihm gegenüberstehende Gipsmodell der Kuppelhalle, die nach dem Endsieg das in Germania umzubenennende Berlin schmücken sollte. Schließlich die Weltkugel aus der Reichskanzlei, auf der Deutschland durch den gezielten Pistolenschuss eines Rotarmisten getilgt worden ist. Ganz so, als ob hier Chaplins Tanz mit der Weltkugel im „Großen Diktator“ das Vorbild abgegeben hätte.

Die Sektion zum Vernichtungskrieg der Deutschen berücksichtigt auch neuere Forschungsergebnisse, zum Beispiel die Beihilfe bzw. Mittäterschaft der Wehrmacht beim Massenmord an Juden und anderen Zivilisten. Oder die völkermörderischen Aktionen, die schon mit der Besetzung Polens 1939 und nicht erst 1941, nach dem Überfall auf die Sowjetunion, einsetzten. Im Sinn der Einbeziehung wissenschaftlichen Meinungsstreits wäre es wünschenswert gewesen, auch die nazistische Sozialpolitik und die materiellen Grundlagen der Massenloyalität zu Hitler stärker zu dokumentieren.

Schnell noch ein Blick in die Vitrine, die der Studentenbewegung gewidmet ist. Ein zeitgenössischer Parka, das berühmte SDS-Plakat „Alle reden vom Wetter“, zwei Tüten, übers Gesicht zu ziehen, mit Resa Pahlevi und Farah Diva drauf, die berühmte Ikone mit Benno Ohnesorg in den Armen der Genossin Fritzi, ein Plakat zum Springer-Hearing an der TU. Nicht toll, aber bekanntlich ist der Zeitzeuge der geborene Feind des Historikers – und des Museumsmanns.