Weltrekord an Weltmeisterschaft

5.400 Stunden lang soll die WM auf Videowänden übertragen werden. Das sind 225 Tage Fußball live – selbst für die maßlose Übertreiberstadt Köln ist das beeindruckend. Mit dabei: ein singender Kulturminister. Das kann zum Kulturschock werden …

Et hätt noch immer joot jejange: Humpta-Karneval trifft auf Samba-Karneval

VON BERND MÜLLENDER

Karl-Heinz Thielen, ehemals Spieler und später Manager des 1. FC Köln, hatte die Heimatseele seiner Stadt einst so erklärt: „Die Kölner haben ein natürliches Misstrauen gegenüber der Obrigkeit und Gewinnern.“ Das mit der Obrigkeit war bekannt, aber die Abneigung Siegern gegenüber? Wahrscheinlich deshalb steigt der FC so gern aus der Bundesliga ab, und die Kölner Fußballseele blüht trotzdem: Et hätt noch immer joot jejange. Und: Nur wer absteigt kann umjubelt wieder aufsteigen, um dann bloß nicht zu oft zu gewinnen und wieder abzusteigen.

Köln also ist nicht nur an seinem geliebten Fluss Rhein sondern auch immer im Fluss. Den trägen Vater Rhein werden alle WM-Besucher genießen können, aber das kölsche Laisser-faire dem gemeinen Dasein gegenüber exakt einzufangen ist für Externe schon schwieriger.

Besonders die brasilianischen Fans werden sich schwer tun. Sie schlagen ihr Headquarter in Köln auf: 2.000 Besucher aus Zuckerhutland mit 30.000 Übernachtungen sind eingebucht. Köln freut sich auf pralle unbeschwerte Lebenslust. Nun haben die Brasilianer sicher gehört, dass Köln auch eine Karnevalsmetropole ist. Und werden sich freuen. Dann aber trifft der Samba-Karneval auf den Humpta-Karneval. Wiegende und kreisende Becken im Salsa-Fieber vs. Marschkultur im harten 4/4-Takt. Zwei recht verschiedene Lebenslüste. Das kann zum Kulturschock werden.

Die katholische Bischofsstadt, in der jede gern begangene Sünde umgehend mit einem schelmischem Lächeln weggebeichtet wird, will zu einer besonders fröhlichen Oase werden. Das Problem: Diese Oase wird, wie andere WM-Städte auch, hoffnungslos überbevölkert sein. Köln rechnet mit einer halben Million Menschen täglich, die zum Massengucken (Public Viewing) kommen und zum Massensaufen (Public Droehning).

Der Massenansturm hat auch Vorteile. Köln-Besucher sehen weniger, wie hässlich diese Nachkriegssiedlung mit ihren historischen Tupfern in Wahrheit ist. Prachtvoll ist der Dom, es gibt tolle Museen. Aber der Begrüßungssatz bei Heimspielen des FC „Willkommen in der schönsten Stadt Deutschlands“ ist pure Satire. Lebenswert ist Köln durch seine verrückten Einwohner.

Am Heumarkt, das ist direkt in der Altstadt am Rhein, findet während der WM-Tage das Fan-Fest „La Ola Colonia“ statt. Die Stadt wirbt stolz, hier würden turnierbegleitend alle Spiele und somit „5.400 Stunden kostenlose Live-Übertragung“ geboten. Das ist beeindruckend, selbst für die maßlose Übertreiberstadt Köln. Denn 5.400 Stunden entsprechen 225 Tagen nonstop. Weltrekord an Weltmeisterschaft.

Hoffentlich sind die 7.600 Programmpunkte und 1.600 Künstler wenigstens richtig gezählt. Gilberto Gil wird auftreten, der große brasilianische Sänger, Gitarrist und Kulturminister in der Regierung Lula. Weiteres Highlight sind die Teenie-Band US 5 (neue Single: „Mama“), eine eigene Show der WDR-Maus, die Cologne Jazz Night und so weiter.

Gleich am 9. Juni, nach der Großleinwand-Übertragung des großen Triumphes von Costa Rica im Eröffnungsspiel, gibt die Kölner Oper eine Open-Air-Aufführung von „Carmen“ – mit Texten des (zugezogenen) Kölner Kabarettisten Konrad Beikircher. Am 2. Juli ist afrikanische Nacht mit Alpha Blondy und Manu Dibango – allerdings sind die Spiele in Köln dann schon lange vorbei und wahrscheinlich alle afrikanischen Teams ausgeschieden. Viele Veranstaltungen sind kostenlos.

Sicher grausam wird das Treffen das Schnauzbart-Ensembles Die Höhner vor der Partie England – Schweden gemeinsam mit der Band English Pride, die für insulare Stadionhits verantwortlich sein soll (alles Nähere: www.koeln.de). Oft wird ein Mann mit besonders monströsem Oberlippenbart auftreten, das ist Oberbürgermeister Fritz Schramma.

Am 10. Juni feiern portugiesische Künstler ihren Nationalfeiertag, bevor am 11. die Kicker ihres Landes zum ersten Kölner Spiel gegen die Exkolonie Angola antreten. Dann ist der angolanische Sänger Jury da Cunha auf dem Fan-Fest zu Gast. Und die Fifa hoffentlich nicht zu traurig, dass das RheinEnergie-Stadion zwar jetzt WM-Stadion Köln heißt, aber die Fahrpläne nicht, wie von den Fußballbossen ursprünglich gewünscht, extra umgeschrieben wurden, weil da halt als Halt RheinEnergie-Stadion draufsteht.

Auf einer noch größeren Leinwand als am Heumarkt wird auf dem Roncalliplatz gleich neben dem Dom die WM gezeigt (auf 60 statt 40 Quadratmeter). Allerdings nur gut ein Dutzend ausgewählter Spiele. Das Domkapitel hatte lange gebockt, dann aber einige Orgelkonzerte gestrichen und Messen verlegt. Dafür wird an Feiertagen wie 15. Juni (Fronleichnam) nicht geguckt. Auch so geht Kölscher Klüngel. Echte Fründe stonn zsamme. Symbiosemetropolis Köln.

Auf jeden Fall ist „Cologne more than a city“ – so der offizielle WM-Slogan. Die Kölner freuen sich auf die WM, weil in Düsseldorf nicht gespielt wird. 1974 war es genau umgekehrt, aber das hat man in Köln vergessen. Denn der Kölner mag nicht nur Gewinner nicht, noch weniger mag er hintenanstehen. Ein schwieriger Balanceakt: nicht gewinnen, aber auch bloß nicht verlieren. Und schon gar nicht mittelmäßig sein. Da muss man schon Weisheiten erfinden wie: Kölle ess e Levensjeföll. Und: Es kommt wie es kommt. Und die WM geht auch wieder.