Berliner Wurstismus

IMBISSKULTUR Mit oder ohne Darm, kleiner Mann oder große Frau, Arbeiter oder Kanzler – die Currywurst verbindet sie vielleicht nicht, aber bringt sie zusammen

Für viele Hindus ist die Kuh unantastbar. Einerseits wird sie mit vielen Gottheiten identifiziert wird. Andererseits wird sie als Teil der Familie angesehen, wie eine zweite Mutter. Die Kuh arbeitet mit auf dem Feld, ist ein Transportmittel und liefert Milch. Zum Dank dafür ist sie unantastbar.

Der Stoff der schwarzen Anzüge blendet im Sonnenlicht. Einigen Männern baumelt das Jackett über der Schulter, die anderen der Gruppe trotzen der Hitze. Die Immobilienmakler befinden sich in einem Geschäftsessen. Auf dem Speiseplan: Currywurst mit Pommes von der Bude. Doch wo bleiben die Klischees? Die von Kaviar, gediegener Atmosphäre und gekühltem Weißwein aus der Karaffe?

Schröder und Barth

Am Aluminiumstehtisch auf dem Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg sind sie nicht zu finden. Die Geschäftsmänner funktionieren die traditionsreiche Bude „Curry 36“ zum Umschlagsplatz weitreichender Entscheidungen um. Ideen werden ausgetauscht. Von den vielen Gesprächen an den Nebentischen lassen sie sich nicht stören.

Keine zehn Meter weiter, im Schatten, an einem roten Stehtisch aus Plastik: Can Aygün und Sascha Meyer schauen Leute und diskutieren. „Currywurst macht süchtig“, sagt Aygün. Mit den Ellenbogen stützen sie sich auf dem Tisch auf. Sie sind zum Mittag gekommen. „Wenn das Geld reicht, gönne ich mir in der Pause eine Wurst“, sagt der 26-jährige Meyer und schleckt sich das Ketchup von den mit weißer Farbe gesprenkelten Fingern. Auch die Brille und die Jogginghose des Malers- und Lackierers sind mit Spritzern übersät. „Früher“, ergänzt Aygün, „hast du für zwei Mark Wurst mit Pommes bekommen.“ Der 36-Jährige ist in dem Berliner Kiez und mit der Currywurst aufgewachsen. Beiden hält der arbeitslose Restaurantfachmann die Treue.

Denny Reinhardt könnte das sicherlich bestätigen. Seit 21 Jahren verkauft er an der Bude Wurst und Pommes. Er kennt sein Stammpublikum. „Gott und die Welt“ habe er schon bedient. Gerhard Schröder sei bei ihm Kunde gewesen, Mario Barth komme immer noch, die Fensterputzer von gegenüber und die ehemaligen Lehrlinge aus dem Kiez, die jetzt mit dem dicken Auto vorfahren würden, gehörten ebenfalls zur Klientel, erzählt Reinhardt im breitesten Berliner Dialekt. Und natürlich Touristen aus aller Welt, Spanier, Amerikaner, der Seniorenkegelclub aus Köln und viele Asiaten. Reinhardt sagt: „Alle kommen sie hier zusammen.“

Detlef und Sabine Poblenz wohnen im Ostberliner Stadtteil Weißensee. Der Rechtsanwalt und die Angestellte im Außendienst der Pharmazieindustrie sind auf ihren Wochenendeinkäufen in Kreuzberg unterwegs. Beide lieben die Currywurst. „Die Schnelligkeit des Essens ist ein Vorteil“, sagt Sabine Poblenz. Zu ihnen, an den großen Tisch, stellt sich Iris Dehnke. Sie gehört ebenfalls zum Stammpublikum der Bude. Die Bäckereiverkäuferin gönnt sich an diesem Tag ein Bier. Schweigend wird Wurst gegessen.

Berlins große Liebe

Meyer und Aygün haben ihre Teller geleert. „Das Sprichwort ,Du bist, was du isst‘ trifft auf unsere Gesellschaft nicht mehr zu“, sagt Aygün und fügt hinzu: „Schau dich um, alle essen Currywurst.“ Selbst wenn diese an Döner und Pizza Terrain verloren hat, scheint diese Feststellung zu stimmen. Zumindest an dieser Bude in Kreuzberg. Jeder liebt sie, die Wurst, der zu Ehren mitten in der Stadt, ganz in der Nähe des Checkpoint Charlie, sogar ein Museum eröffnet wurde. Und jeder isst sie, die Currywurst. Zumindest in Berlin.

ANTJE CLEMENS
, NEOWURSTPHOBIKERIN