Neuer Vorsitz, neues Glück

ZUKUNFT Für die FDP war die letzte Bundestagswahl ein historischer, existenzbedrohender Unfall. Nun muss die Partei von ganz unten anfangen, um sich wieder Gehör zu verschaffen. Auf der Straße und im Wirtshaus, als außerparlamentarische Opposition

■ Präsidium: Christian Lindner ist der neue FDP-Parteivorsitzende. Er setzte sich mit knapp 79 Prozent gegen zwei Herausforderer durch. Zu stellvertretenden Vorsitzenden wurden der Kieler Fraktionschef Wolfgang Kubicki (89,9 Prozent), der Thüringer Landesvorsitzende Uwe Barth (87,3) und die Düsseldorfer Oberbürgermeisterin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (71,6) gewählt. Sie gewann das Duell gegen den Eurokritiker Frank Schäffler (24,8). Ins Präsidium schafften es zudem der baden-württembergische Landeschef Michael Theurer und die Hamburger Fraktionschefin Katja Suding sowie der Finanzexperte Volker Wissing aus Rheinland-Pfalz. Neuer Schatzmeister ist Hermann Otto Solms, der das Amt schon mehrfach innehatte.

■ Landtage: Neben dem Europaparlament (11 Prozent) ist die FDP nur noch in 7 von 16 deutschen Landtagen vertreten. In Thüringen (7,6), Sachsen (10), Brandenburg (7,2), Hamburg (6,7), Baden-Württemberg (5,3), Schleswig-Holstein (8,2), Nordrhein-Westfalen (8,6), Niedersachsen (9,9) und in Hessen (5).

■ Regierungsbeteiligung: In Sachsen und Hessen (geschäftsführend) regiert die FDP jeweils mit der Union. Das bedeutet 9 von 79 Sitzen im Bundesrat.

AUS BERLIN ANJA MAIER

Direkt hinter dem Eingang zur Parteitagshalle, gleich vorne rechts empfängt Hasso Mansfeld die Delegierten des FDP-Parteitages. Der rheinland-pfälzische Liberale hat 2.000 gelb-blaue Anstecknadeln zu verschenken, kleine Pins fürs Revers. Statt des Parteikürzels „FDP“ steht „APO“ darauf. Außerparlamentarische Opposition. Die Dinger gehen weg wie warme Semmeln.

Mansfeld, Teil der liberalen Spaßguerilla „FDP Liberté“, hat ja recht. APO – genau das ist die FDP seit dem 22. September. An diesem Tag flog die Partei aus dem Bundestag. Sie war mit 4,8 Prozent an der 5-Prozent-Hürde hängen geblieben, und das nach einer Legislaturperiode an der Regierung. Ein schmerzhafter, existenzbedrohender Unfall, wie er in 64 Jahren Parteigeschichte nicht vorgekommen ist. Parteichef Philipp Rösler sowie Spitzenkandidat und Fraktionschef Rainer Brüderle traten am Tag nach der Wahl zurück. Zweieinhalb Monate später treffen in Berlin Basis und einstige Führung wieder aufeinander, um sich eine neue Führung zu wählen. Auch eine neue inhaltliche Richtung?

Am Sonntag morgen tritt Christian Lindner ans Mikrofon. Der blonde Nordrhein-Westfale ist tags zuvor mit einem ordentlichen Ergebnis zum neuen Vorsitzenden gewählt worden (siehe Kasten). Er hat eine kämpferische Bewerbungsrede gehalten und gegen zwei weitgehend unbekannte Gegenkandidaten gewonnen. Heute muss Christian Lindner erklären, wo er hinwill mit der FDP, welche Strategien er hat für eine Partei, die ihre bundespolitische Bedeutung verloren hat und die nur noch in einem einzigen Bundesland, Sachsen, mitregiert. Denn die andere schwarz-gelbe Koalition, in Hessen, amtiert nur noch geschäftsführend und wartet derzeit auf ihre Ablösung.

Platz an der Sonne

Der Rauswurf der Liberalen aus dem Bundestag zeigt exemplarisch, wie wichtig für Parteien die Verankerung im parlamentarischen System ist. Ohne Sitz und Stimme im Plenum, ohne einen reibungslos funktionierenden Fraktionsapparat, ohne effektive Öffentlichkeitsarbeit können eine Partei, ihre Mitglieder und Abgeordneten von allem möglichen überzeugt sein. Sie können dieses fordern und jenes tadeln. Aber wer hört ihnen zu?

Die 662 Delegierten in Berlin erwarten an diesem Sonntag von ihrem neuen Vorsitzenden Ideen, wie es weitergehen soll. Was er zu tun gedenkt, um die FDP wieder ins öffentliche Interesse zu rücken und ihr in vier Jahren jenen Platz zurückzugeben, den sie sechseinhalb Jahrzehnte hatte: im Parlament.

Christian Lindner gibt sich kämpferisch. Anderthalb Stunden steht er vorn am Rednerpult und bemüht sich, seinen Parteifreunden neues Selbstbewusstsein einzuimpfen. Er schmäht die Pläne der anstehenden Großen Koalition zu Vorratsdatenspeicherung, Bildungspolitik und Rente. Er preist die Ergebnisse liberaler Politik der zurückliegenden Jahrzehnte. Und er lobt sogar die Arbeit der FDP in der schwarz-gelben Koalition. „Die Ziele bleiben richtig“, ruft er in den Saal, „wir sollten den Mut haben, jetzt auch an ihnen festzuhalten.“ Sein Beispiel: die europapolitischen Entscheidungen. Die Konkurrenz von der AfD, sagt er, „müssen wir uns vorknöpfen“. Jetzt wie die AfD „aus ideologischen Gründen Turbulenzen zu verursachen“ habe man nicht nötig.

Während all des Anfeuerns und Aufrichtens der Zuhörer führt Lindner, passend zur ernsten Miene, ein eindrucksvolles Handballett auf. Mit der niedersausenden Rechten markiert er die harte Kante, mit dem linken Zeigefinger erklärt er Zusammenhänge, aufflammenden Applaus glättet er beidhändig. Er stellt klar: Zum neuen Selbstbewusstsein der FDP gehört auch die größere Distanz zur Union. Kaum ein gutes Haar lässt Christian Lindner gegen Ende seiner Rede am einstigen Koalitionspartner. Das alte Lagerdenken sei endgültig Geschichte, ruft er, „das betrifft auch das Parteiensystem. Wir sind so eigenständig und unabhängig wie niemals in unserer Geschichte.“

Unfreiwillig unabhängig

Gerade diese Losgelöstheit von der Bundespolitik definiert der neue Parteivorsitzende um zur liberalen Unabhängigkeit, mithin zu einem neuen Denken. „Wir haben unseren eigenen Kompass“, ruft er in den Schlussapplaus hinein, „der ist respektabel für genug Menschen. Wir brauchen Überzeugungspolitik.“

So in etwa sieht auch das Konzept aus, das die gedemütigten Liberalen für die kommenden vier Jahre haben. Ähnlich den anderen kleinen Parteien wie Linken und Grünen, werden sich die FDPler und ihre gewählten VertreterInnen künftig stärker in tagespolitische Zusammenhänge einmischen. Sie kehren also zurück zu ihrem ursprünglichen Selbstverständnis als Bürgerrechtspartei. Wo eine Straße gebaut oder eine Waldrodung verhindert werden könnte, werden beim ersten Treffen der Bürgerinitiative wieder häufiger FDPler mit am Wirtshaustisch sitzen. Wo die künftige Bundesregierung Selbstbestimmungsrechte zu beschneiden versucht oder Sozialpolitik durch Steuern finanzieren will, da wird man von der FDP hören. Vorausgesetzt, es hört ihr jemand zu.

Wie das überhaupt passieren konnte, dass die FDP sich künftig Gehör verschaffen muss, darum ging es tags zuvor. Viel Zeit für Rückschau und öffentlich vorgetragene Einsichten der in Partei und Fraktion Verantwortlichen sah die Parteitagsregie allerdings nicht vor. Gerade mal eine halbe Stunde hatte Exparteichef Philipp Rösler, um sich von seinen Parteifreunden zu verabschieden. Gebraucht hat er nur 22 Minuten.

Es war kein leichter Gang für den Vierzigjährigen. „Das tut mir am meisten weh, das können Sie mir glauben: dass ich Ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte, die auch meine eigenen Erwartungen gewesen sind“, sagte er den Delegierten. Der Wahlabend sei „der bitterste Abend in der Geschichte der Partei“ gewesen; wenn er heute im Bundestag „auf die ehemaligen Plätze der FDP blicke, dann tut das schon weh“.

Dramatischer Abgang

Kleine gelb-blaue Pins fürs Revers. Statt des Parteikürzels „FDP“ steht „APO“ darauf. Außerparlamentarische Opposition. Die Dinger gehen weg wie warme Semmeln

Rösler übte aber auch Kritik wegen der Intrigen in der Partei. Er habe sich als Vorsitzender deutlich mehr Unterstützung gewünscht, „vielleicht wäre es dann einfacher gewesen, wenn man nicht alleine die Führung dieser Partei hätte besetzen müssen, sondern es gemeinsam mit einem starken Team hätte tun können“. Letztlich jedoch ließ Philipp Rösler nichts auf seine FDP kommen. Er sei nun zwanzig Jahre Liberaler, „die Hälfte meines Lebens“. Die Partei sei seine „Heimat, mein Zuhause. Ich blicke zurück mit großer Dankbarkeit“, sagt er in den Applaus der Delegierten hinein. Seine Mundwinkel zucken schon. „Es war mir eine Ehre, Ihr Vorsitzender zu sein. Vielen Dank für alles.“

Die Delegierten bedenken jenen Mann, der sie ins bundespolitische Aus geführt hat, mit einem fairen Applaus. Gut eine Minute dauert er an, die meisten erheben sich von ihren Plätzen. Rösler kämpft gegen seine Gefühle an. Er nestelt an seinem Jackettknopf, lässt sich von seinem Freund, Exgeneralsekretär Patrick Döring, in den Arm nehmen. Von Brüderle gibt’s einen Händedruck. Tränen glitzern. Und das war sie, die Zeit des Philipp Rösler als Vorsitzender der Freien Demokratischen Partei.

Exspitzenkandidat Rainer Brüderle geht nach Rösler ans Mikrofon. Er übernimmt die Verantwortung für die Zweitstimmenkampagne nach der missglückten Bayernwahl am 15. September. Aber die Hauptschuld am Abschneiden bei der Bundestagswahl eine Woche darauf sieht er bei anderen. Es habe in der FDP-Berichterstattung eine „Vernichtungssehnsucht gegen uns, auch gegen mich persönlich“ gegeben. Zudem hätten das zahme Wahlprogramm, Mangel an Regierungshandwerk und die endlosen „Durchstechereien“ in Partei und Fraktion für den Niedergang gesorgt. Die FDP sei aber keine Selbsterfahrungsgruppe, hier und heute gehe es um einen Neuanfang.

Neue Besetzung

Und tatsächlich, bei der anschließenden Wahl des neuen Vorsitzenden erringt Christian Lindner vier Fünftel der Delegiertenstimmen. Sein neuer Stellvertreter Wolfgang Kubicki wird mit 90 Prozent gewählt, ebenso Lindners Wunschgeneralsekretärin Nicola Beer aus Hessen. Dass die Delegierten Lindner – fürs Erste – zu folgen bereit sind, zeigen sie bei der Wahl von Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die 55-Jährige Nordrhein-Westfälin tritt in einer Kampfkandidatur gegen den „Eurorebellen“ Frank Schäffler an und gewinnt haushoch mit 71,7 Prozent. Bundesschatzmeister wird Hermann Otto Solms.

Am Ende des außerordentlichen Parteitages stehen also die Personalien fest. Christian Lindner kann versuchen, seine FDP aus der außerparlamentarischen Opposition zu führen. Die Delegierten scheinen sich erst mal mit dem APO-Label vertraut gemacht zu haben: Die heiß begehrten Sticker von Hasso Mansfeld sind alle vergeben.