Hartz IV schockt nicht mehr

Die von der großen Koalition beschlossene Hartz-IV-Verschärfung lässt viele Betroffene kalt. Sie gehe an der Realität vorbei, so die Sozialsenatorin. Tausende Menschen demonstrieren gegen die Reform

von FELIX LEE

Gerade einmal die Hälfte der erwarteten 20.000 Demonstranten war am Samstag zur Auftaktkundgebung gegen die Verschärfung der Hartz-IV-Reform vor das Rote Rathaus gekommen. Eine mögliche Erklärung für die fehlende Resonanz: Die Auswirkungen der Verschärfung werden auf die Betroffenen nur gering sein – vielleicht der Hauptgrund, warum der Pfingstmarsch der Hartz-IV-Gegner und Prekarisierten nicht mehr Teilnehmer zählte.

Der Bundestag hatte am Donnerstag mit der Mehrheit der großen Koalition Korrekturen an der Hartz-IV-Reform beschlossen. Um den so genannten Missbrauch zu bekämpfen, beschloss die schwarz-rote Mehrheit, die Leistungen vom Staat einzustellen, wenn ein Langzeitarbeitsloser mehrmals einen 1-Euro-Job ablehnt. Unter anderem soll der Wohnkostenzuschuss gestrichen werden.

Nach Ansicht von Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linkspartei) handle es sich bei der Verschärfung um bloße „Symbolpolitik“, die auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen würde. Mit der Realität hätten die Maßnahmen aber nur wenig zu tun. Zugleich würden sämtliche ALG-II-Bezieher unter Generalverdacht gestellt. Ihnen würde unterstellt, sie seien arbeitsscheu, sagte Knake-Werner. Ihre Behörde hingegen habe festgestellt, dass die meisten froh über Angebote von 1-Euro-Jobs seien. Bei so geringen Leistungen würden 150 Euro zusätzlich im Portemonnaie viel ausmachen, sagte sie.

Ähnlich sieht es der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Solange auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht ausreichend Arbeitsplätze geschaffen werden, nützen auch keine anderen Maßnahmen, sagte der DGB-Vorsitzende der Region Berlin-Brandenburg, Dieter Scholz. So hätten die rund 50.000 1-Euro-Jobs in der Region in den vergangenen Monaten rund 30.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze vernichtet. Zugleich ist die Zahl der Hartz-IV-Haushalte seit Beginn der Arbeitsmarktreform im Januar 2005 um fast 25 Prozent auf insgesamt 335.000 gestiegen. „Die Verantwortlichen sollen endlich zugeben, dass Hartz IV gescheitert ist.“

Wesentlich positiver fällt die Bilanz bei der Ich-AG aus. Diese Ende Juni auslaufende Förderung sei „sehr stark in Anspruch genommen“ worden, sagte Olaf Möller, der Sprecher der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Arbeitsagentur. Nur sehr wenige seien wieder ausgestiegen.

Ähnlich äußerte sich die Sprecherin des Wirtschaftssenators, Brigitte Schmidt: „Wegen der geringen bürokratischen Hürden war die Schwelle niedriger als bei anderen Formen.“ Daraus seien dann viele neue Existenzen entstanden.

Die vor drei Jahren eingeführte Ich-AG soll durch einen so genannten Gründungszuschuss ersetzt werden – eine Synthese aus Ich-AG und der bereits länger bestehenden Existenzgründerförderung durch ein Überbrückungsgeld. Hintergrund für die Änderung sind auch hier zu hohe Kosten. Die Bundesagentur für Arbeit musste im vergangenen Jahr rund 3,5 Milliarden Euro ausgeben – 1 Milliarde mehr als geplant.