Der Widersprüchliche

Jürgen Klinsmann wollte nie Trainer werden – jetzt soll er die deutsche Nationalmannschaft zum WM-Sieg führen. Das Porträt eines Mannes, dessen Grundsätze immer Verhandlungssache waren

VON MARKUS VÖLKER

Am gefährlichsten ist Jürgen Klinsmann, 41, nach Siegen. 3:0 hatte seine Mannschaft im letzten WM-Test gegen Kolumbien gewonnen, und der Bundestrainer war nach Spielende ins ZDF-Studio geeilt, um den Sieg auszukosten. Dort umzingelten ihn gleich drei Experten: Franz Beckenbauer, der Mainzer Trainer Jürgen Klopp und Urs Meier, ein ehemaliger Schiedsrichter aus der Schweiz. Klinsmann war auf die Meinungen des Trios so erpicht wie Angela Merkel auf Zwischenrufe von der Oppositionsbank. Immer wenn der Fußball-Kaiser und der freundliche Herr Klopp loslegten, gefror Klinsmanns Miene. War er an der Reihe, belehrte er die Runde. Sein Team habe kein Abwehrproblem. Er wisse überhaupt nicht, wie man so etwas behaupten könne. Und Michael Ballack habe keine Kritik geäußert, davon höre er heute zum ersten Mal. Danach lächelte Klinsmann sein Klinsmann-Lächeln. Ein bedrohliches Lächeln.

Michael Ballack hatte vor dem Kolumbien-Spiel gesagt, die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) müsse defensiver spielen. Ballack ist Kapitän der Nationalelf. Darf er so etwas in der Öffentlichkeit sagen? Er darf. Oliver Kahn durfte nicht. Er hatte im vergangenen Jahr gefordert, die Abwehr müsse kompakter stehen. Heute sitzt der Torwart als Nummer zwei auf der Ersatzbank. Dieses Schicksal wird Ballack erspart bleiben. Der Mittelfeldspieler ist unverzichtbar.

Zu seiner Kritik sagte Klinsmann einen bemerkenswerten Satz: „Ich finde es gut, wenn solche Sachen auch mal nach außen getragen werden.“ Hatte man sich verhört? War es richtig, dass Klinsmann das Nach-außen-Tragen von „Sachen“ lobte? Er, der den Informationsfluss steuert wie ein Schleusenwart? Offenbarte sich hier wieder einer der vielfältigen Widersprüche des Jürgen K.?

Klinsmann hat den Begriff des Inner Circle in die deutsche Fußballsprache eingeführt. Im engsten Kreis um den Bundestrainer arbeiten Bundesgenossen. Man vertraut einander. Wichtige Informationen dringen nicht nach außen. Es ist Klinsmanns Schutzzone, in der er Ideen ausheckt, Probleme löst und sein WM-Projekt vorantreibt.

Zu diesem Zirkel gehören Joachim „Jogi“ Löw, der Assistenztrainer, Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, und Andreas Köpke, der Torwarttrainer. In der zweiten Reihe folgen Fitness- und Mentaltrainer, Arzt, Physiotherapeut und „Chefscout“ Urs Siegenthaler. Es gehört zum Prinzip des kleinen Kreises, dass die erwählten Insassen untereinander verschworen sind. Langjährige DFB-Mitarbeiter mussten deswegen gehen. Sie konnten nicht mit Klinsmann. Oder besser: Klinsmann konnte nicht mit ihnen. Torwart-Trainer Sepp Maier hatte ausgedient, ebenso Manager Bernd Pfaff und Völlers Co-Trainer Michael Skibbe. Jugendtrainer Ulli Stielike räumte angeblich freiwillig seinen Posten. Kahn war im Handumdrehen seine Kapitänsbinde los. Im DFB machte bald das Wort von der „Schreckensherrschaft“ die Runde.

Pfaff will noch immer nicht über seine Entlassung reden, Maier hat den Bundestrainer mehrfach scharf attackiert. Tenor: Dieser Mann geht über Leichen. Klubchefs, die Klinsmanns Weg kreuzten, berichten Ähnliches. Der Manager von Tottenham Hotspur wollte nach Klinsmanns Weggang nicht einmal mehr sein Auto mit dem Trikot des Deutschen putzen. Uli Hoeneß, Manager des FC Bayern München, soll, einer Vermutung der Neuen Zürcher Zeitung zufolge, noch heute Schmerzen im Bein verspüren; Hoeneß habe seinerzeit im Zorn über Klinsmann gegen eine Tür getreten. In den Vertragsverhandlungen ging es unter anderem um eine Stammplatzgarantie.

In der Nationalelf war nie die Rede von einer Stammplatzgarantie. Klinsmann hat den Konkurrenzkampf angeheizt – und so genannte „Back-ups“ installiert. Jeder Nationalspieler bekam einen Herausforderer zugeteilt. Gestern ist Klinsmann mit der Mannschaft im Berliner Schloßhotel Grunewald angekommen. Erst jetzt, drei Tage vor dem Eröffnungsspiel, wissen die Spieler, woran sie sind.

Klinsmanns Grundsätze waren immer Verhandlungssache. Er hat einmal gesagt, er werde kein Fußballtrainer – und ist doch einer geworden. Er hat gesagt, er gehe nicht zum FC Bayern – und hat doch dort gespielt. Noch Mitte der Neunzigerjahre hat er die Kommerzialisierung des Fußballs gegeißelt. Heute würde er sich lächerlich machen, erregte er sich über die Auswüchse. Er wirbt im großen Stil – unter anderem für Bier, Süßmilch, Unterhaltungselektronik und eine deutsche Fluglinie.

Klinsmanns Reform ist auf Schwäbisch verfasst: penibel in der Ausführung, auf Gewinn ausgerichtet, und stets egozentrisch im Anspruch. Selbstverständlich hat sich die Klinsmannschaft am Anfang ihrer Regentschaft ein „Wir“ verordnet, wird der „Teamspirit“ als hehres Prinzip gehandelt. Doch eigentlich hat sich Klinsmann, ein Meister der Mimikry, in der Nationalmannschaft seine Welt geschaffen: Klinsmanns Kosmos, einen Staat im Staate des reformträgen DFB.

Man hat sich darüber gestritten, ob Coach Klinsmann ein Reformer ist und seine Neuerungen mit der Agenda 2010 vergleichbar seien. „Allein gegen die Mafia“, hat die Zeit Klinsmanns Reformwerk überschrieben – und eine „Entmachtung der Besitzstandwahrer und Status-quo-Profiteure“ ausgemacht. Der Spiegel hat Angela Merkel ins Spiel gebracht und beobachtet: „Die beiden Deutschen, die als große Reformer angetreten sind, haben immer eine Muschel dabei, in die sie sich zurückziehen können.“ Bild hat sich erst erregt über „Grinsi-Klinsi“ und sich mittlerweile in einen WM-Rausch geschrieben. „Die brauchen uns und wir brauchen sie“, ist von einem Sportbild-Mitarbeiter zu hören. Bild und Klinsmann – das ist kein Antagonismus mehr, das ist eine durchaus gedeihliche Zusammenarbeit. Bei der seriösen Presse, anfangs Verkündigungsmedium Klinsmanns, war das nie anders. Die Symbiose funktioniert: Die auflagenstarken Blätter bekommen ihre Exklusivinterviews und Klinsmann freut sich, dass sich Meinungen und Stimmungen steuern lassen.

Sicher, es gab auch Kritik. In den Frankfurter Heften war zu lesen, dass der Bundestrainer Deutschlands „ranghöchster Volontär“ sei und er sich „Momente der Selbstgefälligkeit“ gönne. Im Rolling Stone fand sich eine beißende Kritik: „Zu Klinsmanns schlechtem Deutsch gesellt sich das Neu- und Dummsprech der New Economy, der grienende Sekten-Optimismus eines Motivations-Scharlatans“, stand in der deutschen Ausgabe des Heftes. Auch im Monatsmagazin Cicero wurde Sprachkritik geübt: „Absurde Aussetzer seiner Spieler heißt er ,notwendige Lernprozesse‘, sichtbare Überforderung ,enormes Steigerungspotenzial‘ und düsterste Desorientierung ,hilfreiche Härtetests‘.“ Auch die taz hielt sich mit kritischen Bemerkungen nicht zurück, weswegen Oliver Bierhoff ihr „Bösartigkeit“ unterstellte.

Klinsmann hat den Nationalspielern nicht nur die Power-Point-Präsentation näher gebracht, auch in Fragen der Leistungsdiagnostik, der Fitness und mentalen Balance hat er seinen Vorgänger Rudi Völler übertrumpft. Aber was bedeutet das Aufgebot an Fitnesstrainern aus den USA, der Einsatz von Weitwinkelkameras und Pulsuhren? Sind sie nicht auch Instrumente einer sportiven Symbolpolitik? Laptops im Training suggerieren Fortschritt – so wie die letzte Hartz-IV-Novelle politische Handlungskompetenz demonstrieren sollte.

Jürgen Klinsmann leidet wie so mancher Politiker am Machbarkeitswahn. Davon könnte der Bundestrainer freilich bald geheilt werden.